Gegen ist in jeder Gegend was anderes — Vom Gegenmehr und Gegenbericht
Wir haben schon häufiger an dieser Stelle die Wichtigkeit des Satzanfanges in der Schweizer Schriftsprachenvariante erläutert. Zu unseren absoluten Lieblingsformulierungen gehören das immer wieder kehrende „für einmal“, oder die in jedem dritten Artikel des Tages-Anzeigers verwendete „Bereits ist es geschehen“ Formulierung am Satzanfang. Jetzt sind wir über ein weiteres Wörtchen aus dieser Kategorie gestolpert.
Wir lasen im Tages-Anzeiger vom 11.11.06 in einem Artikel von Marlène Schnieper aus Jerusalem:
„Gegen 9000 Leute versammelten sich am Freitag auf dem Campus der Hebräischen Universität in Jerusalem“.
(Quelle: Tages-Anzeiger vom 11.11.06.)
Verunsichert, ob uns hier nicht unser eigenes Sprachgefühl erneut einen Streich spielt und wir einem stinknormales Standardwort aufgesessen sind, befragten wir den Duden:
gegen: (bei Zahlenangaben) der angegebenen Anzahl od. Menge wahrscheinlich sehr nahe kommend; ungefähr: es waren gegen 100 Leute anwesend.
Kein „Schweiz.“? Nicht mal ein klitzekleines „südd.“ oder „österr.“? Also schauten wir ins Synonymwörterbuch:
circa, [in] etwa, rund, um, ungefähr, vielleicht, wohl; (österr.): beiläufig; (bildungsspr.): präterpropter; (ugs.): Pi mal Daumen/Schnauze, schätzungsweise, so, über den Daumen gepeilt, um … herum.
„Präterpropter“ kannte ich nicht für „Pi mal Daumen“. Klingt proper. Was man auf Latein nicht alles schön umständlich ausdrücken kann. Dort steht auch ein kleines „österr.“! Aber vielleicht hilft uns direkt die Google-Suche weiter. Wir probieren in Google-CH und in Google-DE verschiedene Varianten von „Gegen 1000/2000/3000/4000 Leute“. Und tatsächlich bestätigt sich unser Anfangsverdacht. Alle Spuren der Verwendung von „gegen“ im Sinne von „circa, ungefähr“ führen in die Schweiz. Beispiel „gegen 1000 Leute“ (Google-Schweiz) 14 Funde:
Beispiele:
Gegen 1000 Leute haben dem Spektakel beigewohnt. Sie haben fantastische Leistungen der Sportler gesehen.
(Quelle: race-inn.ch)
Böse Zungen behaupteten, dass sich die Einladung an alle richtete, die ADSL buchstabieren können – so drängten sich denn auch gegen 1000 Leute um die Buffets und Bars.
(Quelle: Blogg.ch)
Funde in Deutschland belegen „gegen“ nur im Sinne „als Gegner“. Persönliches würde ich „gegen“ mit Zeitangaben verwenden: „Gegen drei Uhr bin ich bei Dir“, aber bei der Formulierung „gegen 1000 Leute“ doch an ein massives Polizeiaufgebot denken, dass sich da gegen eine Menschenmenge stellt.
Oder bin ich da zu empfindlich? Ich finde die Formulierung „gegen plus Zahl“ nicht schlecht oder niedlich oder sonst wie komisch. Sie ist mir einfach nur aufgefallen. Aber vielleicht fange ich wirklich langsam an mit ungesunder sprachlicher Haarspalterei, je länger wir in der Schweiz leben.
Die Schweizer verwenden „Gegen“ sonst noch in Kombination mit dem „Mehr“ als „Gegenmehr“, den „Gegenstimmen in einer offenen Abstimmung“ (Variantenwörterbuch S. 280) und im „Gegenbericht“. Den lernt man in der Schweiz kennen, sobald man seinen ersten Kontoauszug von der Bank zugeschickt bekommt. Denn die freundlichen Menschen von der Bank hätten dann gern so einen „Gegenbericht“. Sie sollten sich dann allerdings hüten, ihrer Bank einen ausführlichen Bericht aus ihrer Gegend zu schicken. Oder ihrerseits berichten, was sie alles so dagegen einzuwenden haben. Es sei denn, es bezieht sich auf die Kontoauszüge. Ein „Gegenbericht“ ist eine „Rückmeldung“:
„Ohne Ihren umgehenden Gegenbericht werden wir uns erlauben, Ihnen ein ganzes Dutzend zu liefern“ (Rutishauser, Geschäftsbriefe 80)
(Zitiert nach Variantenwörterbuch S. 280)
Solche Geschäftspraktiken sind selbstverständlich illegal, passieren aber häufig. Seit Monaten kriege ich eine Zeitschrift, für die ich im Sommer kurz ein Probeabonnement bestellt und bezahlt hatte. Ohne dies aktiv zu verlängern oder mich über die beabsichtigte Verlängerung zu informieren, kamen immer weitere Exemplare der Zeitschrift. Damit nicht demnächst noch eine Rechnung eintrifft, habe ich jetzt „Gegenbericht“ erstattet und die Abonnementsverwaltung darüber informiert, dass es sich hier um einen Irrtum handeln muss, ich nie etwas bestellt habe und darum bitte, die kostenlosen Zusendungen zwecks Kostendämpfung und Minderung meines Papiermüllaufkommens einzustellen. Mal sehen, ob die sich jetzt bei mir bedanken werden. Vielleicht mit einem weiteren Probe-Abo?
November 15th, 2006 at 9:41
Ein weiteres offenbar nicht allen Deutschen geläufiges Wort mit „gegen“, und das du in deiner Aufzählung vergisst, ist die „Gegensteuer“ http://www.blogwiese.ch/archives/452
Wer noch gerne ein paar Müsterchen von zusammengesetzten Wörtern mit „Gegen“ will, kann in Grimms Wörterbuch nachschauen. Von diesen Wörtern kann sicher niemand behaupten, alle zu kennen.
http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/dwb/wbgui?lemid=GG04094
Ein Wort mit „gegen“ wird hin-gegen in den gegen-wärtigen gesprochenen Schweizer Mundarten nicht/kaum benützt: „gegenüber“. Viel häufiger sagen wir „vis-à-vis“.
November 15th, 2006 at 9:47
Lieber Jens,
nichts GEGEN Dich, aber als ich heute morgen so GEGEN halb zehn diesen Artikel las und feststellte, dass noch kein einziger Kommentar abgegeben wurde (geht das Interesse an diesem Thema etwa GEGEN null?), da dachte ich mir schon, dass Du diesesmal etwas übertrieben hast, vielleicht doch zu empfindlich bist …
Ich kenne jedenfalls GEGEN in all diesen Bedeutungen – andererseits war mir auch praeter propter geläufig – bin also wohl kein gutes Beispiel, oder?
Schönen Tag! 😉
November 15th, 2006 at 10:25
@Peter
Kommentare müssen erst freigeschaltet werden, und nicht immer komme ich vor 10:00 Uhr dazu. Habe mich ja im Posting auch gefragt, ob ich zu empfindlich bin. „Gegen 1000 Leute“ habe ich schon verstanden, liest man hier ja regelmässig, aber merkwürdig finde ich, dass in meinem Kopf da immer an erster Stelle „in Opposition“ und nicht „circa, ungefähr“ kommt, wenn ich diesen Satz lese.
Jedes Wort hat bei jedem Menschen eine andere Konotation, und in der Schweiz ist „gegen = ungefähr“ häufiger anzutreffen als die andere Bedeutung. Nicht mehr und nicht weniger war heute Thema, klar dass das kein Brüller ist. Und es war ja auch keine Kritik, sondern nur so eine Beobachtung.
Hingegen mit „Gegenbericht“, „Gegensteuer“ und „Gegenmehr“ hättest Du in Deutschland sicher deine Fans…
November 15th, 2006 at 10:30
Habe gestern diese wunderschöne Seite wiederentdeckt und mir fest vorgenommen, sie jetzt regelmässig zu lesen…ein Genuss für alle sprachinteressierten SchweizerInnen! …und sicher für die deutsche Diaspora in der Confoederatio Helvetica.
Und gleich heute ein neuer Beitrag – Jens, das ist tiptop! (gibt es tiptop in der Sprache des grossen Kantons?)
würde mich mal wunder nehmen, gegen wieviele Leute diese Seite besuchen. 🙂 Hat es einen Zähler?
e schöne dag no!
November 15th, 2006 at 10:43
@Daniel
Der Zähler ist unten rechts auf der Seite hinter dem Knopf „Sitemeter“, dort hast Du ausführliche aktuelle Informationen, woher die Leute kommen, aus welchen Länder, wie viele online sind, welche Betriebssystem, Suchwörter etc., 750 pro Tag und 227’525 Besucher bis heute, oder hier klicken http://www.sitemeter.com/stats.asp?site=s21blogwiesecount
„Mich wunder nehmen“ wurde schon hier behandelt:
http://www.blogwiese.ch/archives/243
Viele Spass beim Lesen und Mitdiskutieren!
Gruss, Jens
November 15th, 2006 at 10:48
@Jens
Ohje – ich fürchte da hast Du mich missverstanden… Ich meinte das ironisch, also beileibe keine Kritik am heutigen Thema! Ich wollte nur in meinem Kommentar GEGEN in verschiedenen Zusammenhängen bringen … Gerade bei „gegen null“ ist uns Deutschen doch das Gegen im Zusammenhang mit Zahlen auch geläufig, ohne als entgegen verstanden zu werden, oder? (Ich hoffe die Stimmung geht jetzt nicht ihrerseits gegen null , wenn ich noch länger drauf rumreite 😉 …)
Scheint aber wirklich was dran zu sein, dass man „gegen = Opposition“ verstehen kann, wenn ich Deine Reaktion auf mich lese – ich habs jedenfalls nicht so gemeint. Im Gegenteil – ich les Dein Blog mittlerweile täglich und das gerne.
Nichts für Ungut, also – sollte ein Spass sein … OK?
November 15th, 2006 at 11:04
@Peter
ohne Gegenrede und ohne Gegenstimme angenommen.
🙂
November 15th, 2006 at 11:04
Jens, als Österreicher kan ich deine Suche nur bestätigen: Wir sagen nur „gegen 8 Uhr“, „gegen Mitternacht“ aber als „cirka“ wird es nicht verwendet, weder in unserem Hochdeutsch noch in den verschiedenen Dialekten.
Peter
November 15th, 2006 at 12:21
Gegenbericht – Rückmeldung …. der moderne Mensch sagt dem doch jetzt Feedback und die Tätigkeit Feedbacken.
*grübel* aber heisst es jetzt „hast Du heute schon feedgebackt?“ oder … „gefeedbackt“?
😉
November 15th, 2006 at 12:49
@Peter
„gegen“ und „cirka“ sind nicht Synonyme.
Mit „gegen“ nähert man sich einem Wert auf der x-Achse von der einen Seite, von der Plus- oder von der Minusseite.
Ein „cirka“ oszilliert aber sozusagen um diesen Wert.
Die Oesterreicher sprechen ja auch eher bajuwarisch oder behmisch (die herausragenden Voralberger ausgenommen).
November 15th, 2006 at 13:02
Ein weiterer Ausdruck der hier ( BE) gebraucht wird um eine Schätzung zu machen im Sinne von ungefähr oder gegen so und so viele Leute, ist:
Handglänk mau Hosesackwermi
oder
Handglänk mau Pi:-)
November 15th, 2006 at 14:31
Anstelle von „Gegen 1000 Leute“ verwende ich auch
„An die 1000 Leute“
oder
„Um die 1000 Leute“
Wobei hier eine ähnliche Unterscheidung zu machen ist wie Lapsus4711 beschrieben hat:
An –> mehr oder weniger 1000
Gruss
myl
November 15th, 2006 at 14:31
die verwendung von „gegen“ im zusammenhang mit zahlen ist absolut mathematisch.z.b der Wert der Funktion strebt gegen A. Wenn man nun die Anzahl leute an einem Event als Funktion F(t) Event: Zeit -> Leute betrachtet, ist der Satz „Es sind gegen 1000 leute anwesend“ nur eine Kurzform von „Die Anzahl leute, welche an diesem Anlass anwesend sind, strebt für t nach undendlich gegen 1000“ 😉 wir schweizer lieben halt das Jonglieren mit zahlen, sonst wäre das bankenwesen ja auch nicht so erfolgreich 😉
November 15th, 2006 at 14:33
Hei nomol, dieser Editor verschluckt dauernd was…
An: kleiner oder gleich 1000 (in diesem Beispiel)
Um: mehr oder weniger 1000
November 15th, 2006 at 14:54
at lapsus4711:
warum sind Vorarlberger herausragender? Sind wir das nicht alle? 🙂
….ja klar: ein Wert geht gegen X, alles knapp daneben und rundherum ist cirka!
und btw: wenn schon dann bajuwarisch, „nix bähmisch“. Die grösste bayrische Sprachgruppe stellen übrigens nicht die Bayern sondern Österreich.
Peter
November 15th, 2006 at 16:15
Zum Thema Statistik.
Das ist ja durchaus interessant. Vor allem von welchen Anbietern die Besucher kommen.
Ein grosses deutsches Nachrichtenmagazin (Spiegel), ein Pharmakonzern (Novartis), 3 Unis (Basel, Tübingen & Kassel), ein deutscher Multimediadiscounter (der Blöd-Markt), ein Walldorfer Softwarekonzern…..
Interessantes Publikum hast du Jens..
November 15th, 2006 at 16:49
Also GEGEN Jens haben wir fast keine Chance. Es sind hier jetzt GEGEN 15 Beiträge eingegangen. GEGENüber diesen ist es schwer noch etwas Gescheites zu schreiben und noch schwerer den rein mathematischen Überlegungen etwas zu entGEGNEN.
Die „Hoseckwärmi mit Handglänk“ von Sylv ist mir fremd. Wenn ich das nächste Mal GEGEN Bern fahr pass ich besser auf.
Ob ein GEGENbericht nur eine Rückmeldung ist, hängt von dessen Inhalt und Anforderung ab. Er kann auch das GEGENteil behaupten, sein, beweisen, im juristsichen Sinne. Bei Zahlungsbefehlen oder vor Gericht z.B.
Januar 4th, 2007 at 21:10
Interessant: Die genau gleiche Bedeutung hat „gegen“ auch im Niederländischen. Dort bedeutet „tegen 2000 mensen“ ebenfalls „etwa 2000 Leute“. Genauso bedeutet „tegenbericht“ „Rückmeldung“.
Grüsse,
Paul
Februar 25th, 2007 at 13:23
Vielleicht suchst du falsch. Für mich klingt ‚Leute‘ mindestens so sehr nach helvetismus wie ‚gegen‘. Vielleicht hättest du andere Ergebnisse erhalten, wenn du nach ‚Gegen 1000 Personen‘ gesucht hättest…