Haben Sie auch eine Scheibe? — Neue Schweizer Redewendungen
Die Schweizer sind ein schiessfreudiges Völkchen. Schon mehrfach berichteten wir vom „Schiesspurgatoriumobligatorium“, der Pflicht des wehrhaften Schweizers, seine international geführten Fähigkeiten als „Sniper“ zu trainieren und auszuüben. Geschossen wir mit den Hochpräzisionsgewehren über 300 Meter auf Scheiben, nicht auf Pappkameraden wie bei der Deutschen Bundeswehr.
(Foto: Filmplakat „Unternehmen Pappkamerad„, Quelle: murnau-stiftung.de)
Das Schiessen auf solch einen „Pappkameraden“ war für manchen Wehrdienstleistenden in der Bundeswehr Grund genug, sofort und unmittelbar den „Kriegsdienst mit der Waffe“ zu verweigern, wie es seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland von den Vätern der Verfassung in Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes vorgesehen ist:
„Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“.
(Quelle: datenschutz-berlin.de)
Wer den Kriegsdienst in Deutschland verweigern will, sollte diesen Satz nebst Quelle auswendig können, denn nichts ist peinlicher, als bei einer Verhandlung danach gefragt zu werden, und gar nicht zu wissen, auf welchen Artikel man sich da beruft.
Interessant ist der nachfolgende Satz im Grundgesetz: „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz“, denn da öffneten sich dann etliche Möglichkeiten, die von Jahr zu Jahr angepasst wurden.
Die Schweizer schiessen also auf Scheiben, wenn sie nicht gerade selbst „eine Scheibe haben“. Nein, sie malen sich dazu nicht runde Kreise auf die Stirn, im Sinn eines Kamikaze-Kämpfers als „bewegliches Ziel“ für die anderen. Es ist kein angenehmes Gefühl für einen Schweizer, wenn er „eine Scheibe hat“. Es ist ihm dann schummrig, schlecht, er ist wackelig auf den Beinen, wie nach einer durchzechten Nacht ohne Schlaf, oder nach dem Genuss diverser Chemikalien.
In Deutschland wäre man in dieser Situation wahrscheinlich „neben der Kappe“ oder man hätte eine „Mattscheibe“, wie ein Fernseher, der nur weisses Rauschen anzeigt. „Neben der Kappe“ sein findet sich bei Google-De immerhin 11.900 mal, während die Schweizer „Schiibe han“ nur wenig geschriebene Belege hat. Wem so schlecht ist, der schreibt das selten auf. Wahlweise ist es dann eine „hammer Schiibe“, eine „mega Schiibe“ oder eine „fette Schiibe“ die jemand hat: Vgl. Google.
Mit dem Ausdruck lässt natürlich wunderbar wortspielen, zum Beispiel in einem Beitrag über die Plattenindustrie:
Der König bin ich und nicht die Herren und Damen der Industrie, die mittlerweile vor lauter Prozessen, An- und Wehklagen eine ziemliche Scheibe haben dürften.
(Quelle pctipp.ch)
Das bemerkenswerte Züri-Slangikon führt diese Redewendung als eine von vielen Varianten für „müde, erschöpft“ sein:
chasch mi schüüfele (ich bin todmüde), d Luft isch dusse, d Schlüüch sind leer, dure, duuch, fertig sii mit de Wält, fix und foxi, flade, fläde, flocho, gschlisse, gschluuchet, halb-läbig, i de Brüch, i de Seil hange, ich han e Schiibe, im Arsch sii, lulo (lustlos), proche (gebrochen), putt (Abk. von kaputt), säcke, schläbe, Schrott, sugo, teig, tilt, uf de Felge, uf de Schnäuz, uf de Schnure, uf de Stümpe, uf em Hund, uf em Zahfleisch laufe, uf Resärve, uusbrännt, uusglutschet, voll am Arsch, Wind i de Wüeschti haa, zur Sou
(Quelle: Slängikon)
Ob es auf Züridütsch genauso viele Ausdrücke für „ich habe Lust zu arbeiten“ gibt?
Im Hochdeutschen können wir uns davon ruhig „eine Scheibe abschneiden“, den dass wäre die einzige Redewendung, die wir zum Thema beitragen können. Abgesehen von der Anmerkung, dass das Wort „Scheibe“ oder „Scheibenkleister“ gern als harmloser Ausweichbegriff für gleichbeginnende Worte der Fäkalsprache verwendet werden. Womit sich durch den Ausruf „Es schiist mich an“ der Reigen wieder schliesst.
Einst haben wir behauptet, dass die Schweizer diesen Fluch nur äussern wenn daheim das Sturmgewehr beim Putzen im Kleiderschrank umfiel und sich ein Schuss von allein in Richtung Putzfrau löste (vgl. Blogwiese) . Nachdem wir über diesen Irrtum in der Zwischenzweit an die 20 Mal aufgeklärt wurden, halten wir heute fest fürs Protokoll: Ja, wir wissen was „es schiist mich an“ bedeutet, wobei wir bei der Vorstellung von reflexiver Stuhlgang immer noch etwas unter mangelndem Vorstellungsvermögen leiden. Wie soll das denn funktionieren? Will man uns hier etwa verscheissern?
Juli 30th, 2006 at 10:45
Ein paar Finessen der Grammatik (Die Wortwahl hat hingegen nichts mit „Finesse“ zu tun):
„ES schisst MICH aa“ ist nicht reflexiv, genauso wenig wie „ … MAN UNS verscheissern will“ „Es regnet mich an“ hat nämlich auch ein Subjekt und ein Objekt, also klare Täter und Opfer. Aber die von dir vertretene Vorstellung des reflexiven „aaschiisse“ ist, zugegeben, köstlich – nicht „köstlich“ im Sinn von appetitlichem Essen, versteht sich.
Die Vorsilbe „an-“ wird in Dialekt zu „aa-“ Deshalb sagen wir auch in Emil-Hochdeutsch so schön „aaanhängen“ und nicht wie es in Theaterdeutsch verlangt wäre „annnhengn“ (anhängen)
Das Slangikon kann ich (und sicher viele andere Kommentatoren) erweitern:
„hüt schiist’s wider!“ (= „heute ist wieder der Teufel los!“ oder „heute geht wieder alles drunter und drüber“)
oder gerade gestern gehört:
„mich schiisst das aa, wänn er mich immer eso zämeschiisst!“ Die Aussage „zusammenscheissen“ oder „Zusammenschiss“ findet sich auch auf deutschen Google-Fundstellen. Ob das jedoch im gesamten deutschen Sprachraum bekannt ist, wage ich dennoch zu bezweifeln. Vermutlich aus der Militärsprache – mit all ihren Abkürzungen – stammt die Aussage: „gestern haben wir wieder einen ZS bekommen, weil wir zu spät kamen“. ZS heisst „Zusammenschiss“ oder eben „Moralpredigt“, „Strafpredigt“, „Rüge“, „Kritik“,
Nochmals Finessen der Sprache:
Auch unter „Schibe HA“ oder „Schiibe HA“ finden sich auch nur zweistellige Fundstellenzahlen in Google und viele davon erwähnen „erst noch“ Schallplatten/CDs oder so. ZH: „Schiibe ha“ = D: „ … Scheibe haben (Infinitiv)“, ZH: „Schiibe han“ = D: „ … Scheibe habe (konjugiert, ich)“. (ZH: s’Värb ha: ich han, du häsch, er hät, mir händ, ihr händ, sie händ)
Übrigens: Entwarnung an alle Dialektlerner: Keine Angst vor Nahrungsmitteln, die „g‘schiblet“ sind. Die haben nicht etwa halluzinogene Inhaltsstoffe, wovon man nach Genuss „eine Scheibe“ bekäme; die sind einfach „gescheibelt“ = „in Scheiben geschnitten“. Z.B. „e g’schibleti Salami“
Juli 30th, 2006 at 13:09
„Schiessobligation“ gibt es nicht. Es ist ein „Schiessobligatorium“. Man sagt auch „s’Obligatorisch go schüsse“, oder auch nur „ich mues no s’Obligatorsch go mache“. Ende des Sommers, gibts jeweils noch die Reservetermine zum „Nachschiessen“, für all jene, die das „Obligatorische verpasst“ haben.
[Anmerkung Admin: Danke für den Hinweis, habe es bereits korrigiert]
Juli 31st, 2006 at 19:02
Ich bin heute zum ersten mal auf dieser Webseite und amüsiere mich köstlich. Nur etwas tut mir in meinen Augen und Ohren weh: es schiisst mich an… Dieses „an“ ist doch überhaupt nicht schweizerisch, aaschisse sagt man doch. Alles andere ist doch irgendwie ein Ueberbleibsel aus dem grossen Kanton.
Nüt für unguet, es war nur so eine schnelle Bemerkung aus dem Bauch heraus.
August 2nd, 2006 at 10:12
Köstlich!!!!
August 31st, 2006 at 23:16
Also, „neben der Kappe“ kenne ich nicht, aber „neben den Schuhen“ = „näb de Schueh“…