Leben ohne Genitiv — Jahresende ohne „des“
Heute ist das Ende des Jahres 2005 gekommen. Die Deutschen feiern diesen Tag bzw. Abend als „Silvester“, in dem sie sich am Abend in einem der vielen Dritten Programme zum x-ten Mal die Wiederholung von „Dinner for one“ anschauen, bis um Mitternacht Siedler oder Rommé spielen oder Stefan Raab glotzen, dann mit einem Glässchen Mumm-Sekt auf die Strasse gehen, um sich die Ohren durch Nachbars Feuerwerk abbrennen zu lassen.
Um Mitternacht herrscht Krieg auf Deutschlands Strassen, es werden Gefechte zwischen Strassenseiten und regelrechte Schlachten mit den Knallern und Raketen veranstaltet. Türen und Fenster sollten gut geschlossen sein in der ersten Stunde des neuen Jahres, sonst finden Sie plötzlich einen China-Böller, Knallfrosch, „Zisselmann“ (so heissen die „Frauenfürze“ in Norddeutschland) oder eine Rakete in Ihrem Schlafzimmer wieder. Die Zürcher lassen sich da mehr Zeit. Sie sind um Schlag 12.00 Uhr mit Anstossen beschäftigt, was bekanntlich eine Weile dauert (siehe Blogwiese) und brauchen erst um 00.20 Uhr auf die Strasse zu gehen, denn vorher gibt es kein Feuerwerk und Knallerei, sondern nur Kirchenglocken zu hören.
Die Schweizer haben das „Ende des Jahres“ abgeschafft. Hier heisst es wesentlich häufiger kurz und bündig „Ende Jahr“ (Google 167.000), wie „Ende des Jahres“ (67.000 Belege)
Beispiel aus dem Newsportal www.news.ch:
Operativer Chef von Unaxis geht auf Ende Jahr (Quelle: news.ch)
Der Genitiv ist für die Schweizer eine viel zu komplizierte Angelegenheit bei zeitlichen Angaben, ausserdem gilt es wieder, Platz zu sparen in diesem kleinen Land, warum also dann das Wörtchen „des“ verwenden wenn es auch ohne geht? So heisst es in der Schweiz folgerichtig häufiger „Anfang Monat“ (897 Mal ) als „Anfang des Monats“ (690 Mal)
Besonders krass ist der Unterschied beim Jahr: „Anfang Jahr“ (56.000 Mal) und nicht „Anfang des Jahres“ 23.000 Mal.
Beispiel aus dem Zürcher Unterländer vom 9.12.05:
Rafz: Schulsozialhelferin beginnt Anfang Jahr ihre Arbeit (Quelle:)
Sogar „Anfang Woche“ findet sich 596 Mal
Bleibt uns nur noch, den Lesern der Blogwiese einen „Guten Rutsch“ zu wünschen, also einen „Guten Jahresanfang“ (mit Genitiv-S!), denn daher kommt dieser Wunsch:
Einen guten Rutsch! — das wünscht man einander zum Jahreswechsel. Doch obgleich dieser im deutschsprachigen Raum oft von Schneematsch und Glatteis begleitet ist, hat der Wunsch damit nichts zu tun, und auch die Assoziation mit dem Hineingleiten ins nächste Jahr (Einen guten Rutsch ins neue Jahr!) ist nur eine Volksetymologie. Rutsch geht hier vielmehr mit Umweg über das jiddische/rotwelsche rosch auf das hebräische rosh zurück, was Kopf oder auch Anfang heißt. Man wünscht einander also schlicht einen guten (Jahres-)Anfang (Quelle:)
Dezember 31st, 2005 at 12:54
Zu „leben ohne ‚des‘ “
Der Genitiv ist im Dialekt (nur gesprochen) überhaupt inexistent. Man muss „Em Bueb sin Hund“ (wörtlich: Dem Jungen sein Hund) sagen, um „den Hund des Jungen“ ausdrücken zu können. Auch als Fragestellung muss man auf ähnliche Dativ-Bildungen ausweichen, da wir „wessen“ nicht verwenden: „wäm sini Farbstifte sind das? (wörtlich: wem seine Farbstifte sind dies?). An Stelle von „dessen“ tritt das Allerweltspronomen „wo“ auf, ‚wo‘/welches nicht nur örtlich gebraucht wird: „Das isch de Bueb, wo mer sini Schwöster vorane gseh händ.“ (das ist der Junge, dessen Schwester wir vorhin gesehen haben).
Diese Dialekt-Sätze sind allesamt länger als die hochdeutsche Genitiv-Version. Wie war das mit Buchstaben-, bzw. Platz sparen?
Schweizer müssen jeweils darauf achten, solche Fehler im Hochdeutsch zu vermeiden, sonst berühren wir das Kapitel „der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“. http://www.libri.de/shop/action/productDetails?artiId=3594385&nav=1001
Zumindest die Substantiv-Konstruktionen wie „Ende Jahr“, die im Dialekt Genitiv-frei ausgesprochen werden, haben es ins helvetische Presse-Hochdeutsch geschafft.
Platz- und Buchstaben sparen können wir wieder bei den guten Wünschen:
En Guete (einen guten [Appetit]) und
Es guets Nöis (ein gutes neues [Jahr]) allen Lesern dieser Zeilen!
Dezember 31st, 2005 at 15:23
Das Buch „der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ ist sehr empfehlenswert.
wollte ich nur loswerden
und es guets neus ebefalls
Dezember 31st, 2005 at 16:34
Eine klitzekleine Genitivinsel gibt es angeblich im Schweizerdeutschen, mindestens im Berner Oberland, wo man scheint’s bei Eigennamen durch Anhängen des „s“ einen Genitiv bilden könne (das sei kein Germanizismus, sondern schon immer so gewesen): Uelis Sepp, Uelis Hütte.
Dezember 31st, 2005 at 16:50
Bei erwarteten 200’000 Zuschauern zwischen Bürkliplatz und Bellevue heute Abend sind 20 Minuten zum Anstossen ja Rekordverdächtig 😉
Dezember 31st, 2005 at 17:55
@ichbins Das geht ganz einfach. Dafür gibts doch das „Söll gälte“
Januar 3rd, 2006 at 11:48
An Quasiquasi:
Stimmt, diesen Genitiv hätte ich eigentlich auch kennen sollen. Mein Vater, der in einem solothurnischen Dorf aufgewachsen ist, nennt die Leute aus diesem Dorf bei den Vornamen ihrer Vorfahren (in diesem Dorf waren bis vor wenigen Jahrzehnten nur etwa drei Nachnamen vertreten, da fast alle weit verzweigt miteinander verwandt waren). z.B. „Seppu-Doufs-Sepps Ueli“ (Josefs-Adolfs-Josefs Ulrich)
Januar 3rd, 2006 at 14:27
@Herr Wiese ;): Hier ist auch anfangs Jahr / anfangs Woche / … (anfangs wird also klein und mit -s geschrieben) geläufig.
@Phipu: So was ähnliches kenne ich auch aus dem AG, aus meinem Heimatort, wo ich aufgewachsen bin. Dort wird aber nicht im Genitiv gesprochen; Bsp. „de Bärti-Hans“ („dem Albert sein Hans“) oder „s Bärti-Marie“ (die die Frau vom „Bärti-Hans“ ist).