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Bis zum Gymnasium nur Alemannisch gesprochen — Jugend im Dreiländereck

(reload vom 9.1.2007)

  • Sylvie aus Fischingen
  • Fischingen ist ein kleiner südbadischer Ort, unweit von Basel am Oberrhein gelegen. In Fischingen wird Alemannisch gesprochen. Sylvie stammt aus Fischingen, sie wuchs dort auf und besuchte dort die Grundschule. Sie erzählte uns, dass in der Grundschule in den Siebzigerjahren ausschliesslich Mundart, also Oberalemannisch gesprochen wurde. Auch von den Lehrern. Geschrieben wurde nicht in dieser Sprache, nur gesprochen. Geschrieben wurde auf Hochdeutsch, aber schon beim Vorlesen der geschriebenen Texte kam die alemannische Aussprach der stimmlosen Konsonanten zum Zuge: „Wir gehen in den Tssooo“ statt „in den Zoo“ mit einem brummenden stimmhaften „Z“ am Anfang.

  • Der Deutschlehrer aus Norddeutschland
  • Der Wechsel auf das nächste humanistische Gymnasium war ein sprachlicher Schock für Sylvie. Plötzlich verlangte der aus Norddeutschland zugezogene Deutschlehrer von ihr, dass sie nur noch Hochdeutsch sprechen sollte. Sie wehrte sich dagegen. Schliesslich war der doch in ihre Heimat gekommen, also sollte er auch ihre Spreche verstehen lernen. Es kam zum Konflikt, Sylvie wollte nicht mehr diese Schule besuchen. Die Eltern wurden angeschrieben und zu einem Gespräch gebeten. Ihre Eltern hatte Sylvie bis zu diesem Zeitpunkt noch nie einen Satz auf Hochdeutsch sprechen hören. Sie bezweifelt bis heute, ob die überhaupt dazu in der Lage wären, etwas nicht auf Alemannisch zu äussern. Aussage des Vaters zum Sprachkonflikt der Tochter mit dem Norddeutschen Lehrer: „Der will dass du nur noch Hochdeutsch redest? Da brauchst Du nicht mehr hin“.

  • Standhaft bleiben an der Uni
  • Sie hat es dann doch gelernt in der Schule, wie eine Fremdsprache, aber stets in der Freizeit und in der Familie weiter Alemannisch gesprochen. Bis zum ersten Tag an der Uni, sie kam zu spät zu ihrer ersten Vorlesung in Freiburg (Breisgau) und fragte ihren Banknachbar leise „Han i scho viel verpasst, i bin zu spoot“, worauf der sich zu ihr rüberbeugt und zurückfragt: „Excuse me, could you repeat your last sentence?“ Es war ein Kommilitone aus Kiel, der kein Wort verstanden hatte.

    Sylvie blieb eisern bei ihrer Sprache. Schliesslich war sie hier zu Hause und die anderen waren ein „Zugezogener“, warum sollte sie sich also anpassen. Konsequent blieb sie beim Oberalemannischen im Gespräch mit allen Kommilitonen des Deutschen Seminars. Die lernten mit ihr aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhocheutsche zu übersetzen, und plötzlich war Sylvie im Vorteil, denn sie wusste sofort was „hôchgezît“ und „büechelîn“ bedeutet, ganz ohne in Lexers Mittelhochdeutsches Wörterbuch nachschlagen zu müssen.

  • Sprechen Sie auch Dialekt?
  • Später lernte sie Gottfried aus Oberfranken kennen. Das liegt im Freistaat Bayern. Auch er hatte sich dafür entschieden, konsequent in allen Gesprächssituationen beim Fränkischen zu bleiben. Es war äusserst interessant, die beiden bei angeregten Fachdiskussionen zu belauschen.

    Den ersten längeren Satz auf Hochdeutsch hörte ich Sylvie in einem Auswahlgespräch für eine Stelle als „assistante de langue“ in Frankreich sagen. Die Interviewer (Studienräte des örtlichen Gymnasiums) überprüften bei uns Germanisten, wie fest wir die „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ der Bundesrepublik verinnerlicht hatten und ob wir auch ein korrektes Deutschlandbild im Nachbarland Frankreich verbreiten würden, selbstverständlich auf Hochdeutsch. Sylvie schlug sich tapfer, ausschliesslich in akzentfreiem Hochdeutsch. Erst bei der Frage: „Ach, Sie sind ja hier aus der Gegend. Könnten Sie denn auch für die französischen Schüler einmal ein Gedicht auf Mundart rezitieren“ konnten wir uns das Lachen fast nicht mehr verkneifen („verheben“ hätte Sylvie jetzt gesagt). Die arme Sylvie hatte sehr konzentriert zwei Stunden Hochdeutsch geredet und wird nun gefragt, ob sie auch was auf Mundart sagen kann! Am liebsten hätte sie ja das ganze Gespräch so geführt, aber soviel Sprachverständnis war von den süddeutschen Studienräten nicht zu erwarten. Dialekt ist Privatsache und gehört nicht in einen offiziellen Rahmen, schon gar nicht an eine Schule. Nur in der Unterrichtseinheit „Mittelhochdeutsch“ ist das laut Lehrplan in der 11. Klasse erlaubt. Ausser man lebt in der Landeshauptstadt Stuttgart und gehört zu den „Honorationsschwaben“.

  • Muettersproch in der Familie, Hochdeutsch im Alltag
  • Heute sprich Sylvie im Alltag bei der Arbeit fast nur noch Hochdeutsch. Sie lebt in München (nein, nicht mit Gottfried) und erzieht ihre Kinder selbstverständlich in ihrer alemannischen „Muettersproch“. Von Sylvie erfuhren wir, dass eine ganze Reihe der typisch Schweizerischen Redewendungen auch im Südalemannischen gebraucht werden. „Das Heu auf der gleichen Bühne haben“ kannte sie genauso wie „eine gute Falle machen“.

    

    16 Responses to “Bis zum Gymnasium nur Alemannisch gesprochen — Jugend im Dreiländereck”

    1. Smilla Says:

      Ich finde es schwierig, wenn Kinder in einer Sprache großgezogen werden, die es nicht als Schriftsprache gibt. Handelt es sich um ein normalbegabtes Kind, wird es keine Mühe haben, sich zu dieser Sprache eine Hochsprache anzueignen, wenn es spätestens mit Schulbeginn erforderlich wird. Aber was machen wir mit Kindern, die sich mit Sprache eher schwertun? Ich halte es für besser, mit Kindern eine möglichst deutliche und durch wenig Akzent gefärbte Sprache zu sprechen.
      In Nordfriesland wird Friesisch an den Grundschulen gelehrt. Auch das ist eine Pflege der Sprachtradition. Aber Friesisch hat eben auch eine Schriftvariante…

    2. rca Says:

      Wunderschöne Sache. Ich wünsche mir ja schon immer von allen Deutschen mehr Mut zum Dialekt, da hat es so viel zu entdecken, das sonst einfach stirbt.

      Ich wage zu behaupten, das (sowieso nur von den Medien verbreitete) schlechte Image der Deutschen in der Schweiz wäre nur halb so schlecht, wenn sie alle mit ihrem Mutterschnabel reden würden statt mit ihrer Universitätshochsprache 😛

    3. Smilla Says:

      @rca:
      Für manche ist der Mutterschnabel eben Universitätshochsprache.

    4. Franzl Lang Says:

      @rca

      Das lustige ist ja, die meisten reden so wie ihnen der Schnabel gewachsen ist…. nur verstehen die Schweizer das nicht. Kein Schweizer hört meine rheinische Färbung raus.

    5. Archer Says:

      @rca: Genau. Nicht das das faschistisch anmutende Hochdeutsch nicht ausreicht. Getz sabbeln mer se auch noch auf Saterfriesisch, Ruhrpott, Sächsisch und Boarisch zu. Babylon lässt grüßen.

      In der Öffentlichkeit hat der Dialekt nichts zu suchen. Hüben wie drüben. Ansonsten machen wir alle unser Dialektkontinuum auf und bauen Mauern. „Sterben“ wird durch klares und eindeutiges Deutsch gar nickes.

    6. pfuus Says:

      A dr Grundschuel z´Fischige hän si au in de 70iger Joor „Hochdütsch“ gschwätzt( ich bii nämlich au dört gsii). Aber me het dusse mehr alemannisch ghört. „i BIN ZU spoot“-> so öbbis han ich z´Fischige nit ghört 😉

    7. rca Says:

      Smilla: Das ist Normalität in der Schweiz, Millionen von Kindern lernen eine Sprache, zu der es keine schriftliche Fassung gibt. Jeder schreibt wie er will, und das klappt wunderbar.

      Da Deutsch für Deutschschweizer quasi eine Fremdsprache ist, wird sie dann auch so ähnlich gelernt. Ich glaube aber nicht, dass sie darunter leiden. Ich habe Deutsch als erste Fremdsprache nach dem Romanischen gelernt — mit fünf Jahren ist man sprachlich noch so flexibel, das funktioniert wunderbar.

    8. Guggeere Says:

      Spricht man im badischen Fischingen nicht eher Niederalemannisch? Das andere Fischingen liegt im Kanton Thurgau und ist durchwegs hochalemannisch.

      @ Smilla
      «Ich finde es schwierig, wenn Kinder in einer Sprache großgezogen werden, die es nicht als Schriftsprache gibt.»
      Wir haben unsere alemannischen Mundarten, und geschrieben wird Standarddeutsch. Trifft also in der deutschen Schweiz nicht zu.

      @ rca
      «Da Deutsch für Deutschschweizer quasi eine Fremdsprache ist,…»
      Das wird uns, aus welchen Gründen auch immer, pausenlos eingeredet, nachgeplappert und u.a. deshalb von vielen so empfunden. Was aber noch lange nicht heisst, dass es auch so ist. Also bitte nicht schon wieder diese Diskussion.

      @ Archer
      «In der Öffentlichkeit hat der Dialekt nichts zu suchen.»
      Wer in der deutschen Schweiz leben will, bringt es mit dieser Einstellung zu nichts.

    9. Archer Says:

      @Guggeere: Wer die Leute hier mit Boarisch oder Höchstalemannisch zuquaken will, bringt’s auch zu nix. Die phänomenale Erkenntnis, dass dies ortsabhängig ist, habe ich mal vorausgesetzt.

      Aber anscheinend haben es eine Menge Deutsche in der Schweiz irgendwie geschafft, ohne plötzlich Mundart und Dialekt zu sprechen. Das Hörverständnis und das selbst sprechen ist ja etwas anderes.

    10. Smilla Says:

      @Guggeere:
      Stimmt nicht. Es gibt zu den gesprochenen Mundarten, bei denen immer wieder der Status einer eigenen Sprache betont wird, keine Schriftsprache. Die Schriftsprache ist „Schriftdeutsch“ und wird nur im absoluten Zwangsfall, sprich, mit Deutschen, in der Schule und, wie rca, betont hat, an Universitäten gesprochen, weshalb der Begriff „Univesitätssprache“ aufkam.

    11. pfuus Says:

      @guggeere

      Bei einem (badisch Fischinger) Feuerwehrfest meine ich auch einmal ein Feuerwehrauto aus Fischingen TG gesehen zu haben, wenn mich meine Kindheitserinnerung nicht täuscht.

      Alemannisch in klingt in manchen Dörfern (z.B Istein und Bellingen) ähnlich wie Baseldeutsch, z.B D‘ Vegel anstatt Vögel etc.

    12. Guggeere Says:

      @ Smilla
      Das haben Mundarten überall auf der Welt so an sich, dass sie aus dem Mund kommen und nicht geschrieben werden. Sonst hiessen sie ja Handarten…
      Im Ernst: Ich spreche Standarddeutsch, wenns nötig ist, und sonst eben St.Galler Mundart oder eine Fremdsprache. Immer je nach Bedarf.
      Und mir fehlt gar nichts – im Gegenteil: Ich bin überzeugt, dass ich u.a. deshalb so gut Standarddeutsch schreiben und sprechen kann, weil ich sehr gut Dialekt spreche.
      Inwiefern sprachlich schlechte Kinder besser dran wären, wenn sie von Anfang an nur dialektfreies Standarddeutsch lernen würden, kann ich nicht nachvollziehen.

    13. Smilla Says:

      @Guggeere:
      In Deutschland spricht man in, abgesehen vom süddeutsschen Raum, speziell mit jüngeren Kindern ein möglichst akzentfreies Deutsch, um ihnen die sprachlichen Wege zu ebnen. In Süddeutschland sieht es häufig anders aus. Ich persönlich empfinde es wichtiger, dass Kinder eine Sprache gut beherrschen als dass sie in mit einer Mundart vertraut sind, egal, in welchem Land das stattfindet. Hochsprache beherrschen heisst, mit allgemeingültigen Umgangsformen vertraut zu sein. Das Beherrschen einer Mundart ist für mich ein „nice-to-have“.

    14. pfuus Says:

      @smilla
      Das ist ja eigentlich auch kein Problem, wenn man beides als zwei paar Schuhe betrachtet.
      Gleichschaltung? Nein Danke!

    15. Guggeere Says:

      @ Smilla

      «Hochsprache beherrschen heisst, mit allgemeingültigen Umgangsformen vertraut zu sein.»
      Eine bahnbrechende Entdeckung! Wenn also Herr Ghadaffi senior einen gründlichen Deutschkurs für seinen missratenen Klon organisiert hätte, fühlte dieser sich heute nicht bemüssigt, ab und zu ein Dienstmädchen zu verprügeln. Allerdings deutet alles darauf hin, dass auch Ghadaffi senior selber keine Hochsprache beherrscht…

      Ausserdem habe ich etwas gegen das Wort «Hochsprache». Klingt mir zu sehr nach Sektglas- oder Lodenmantel-Schickeria und impliziert, dass das andere zwar auch irgendwie deutsche Sprache ist, aber viel weniger hoch. Und so was taugt gerade noch für die niederen Stände, fürs Proletariat, fürs gemeine Volk, fürs Gesinde usw.

      [Anmerkung Admin: Kann dich beruhigen, es gibt keine „Hochsprache“. Es gibt „Hochdeutsch“, was die Kurzform ist von „Neu-Hoch-Deutsch“, wobei „neu“ die Zeit meint (im Gegensatz zu Mittelhochdeutsch und Althochdeutsch) und „Hoch“ die geographische Komponenten, im Gegensatz zu „Mittel- und Niederdeutsch“, also den Süden des deutschen Sprachraumes. Kann man nicht oft genug erklären, dass dieses „Hoch“ nix mit hoher Qualität zu tun hat, sondern mit hohen Bergen.]

    16. Eva Dusch Says:

      Bin Fränkin und bereue es, keinen Bezug zu meinem Dialekt zu haben. Ich wünschte mir wäre der Zugang zum Dialekt erleichtert worden, zumal der Dialekt im Gehirn wie eine weitere Sprache abgespeichert wird.