Schweizerdeutsch für Fortgeschrittene (Teil 13) — Nachtbuben und Strolchenfahrten
Die Schweizer bleiben in der Regel in der Nacht daheim, wenn sie nicht „im Ausgang“ unterwegs sind. In der Nacht geht es gefährlich zu in der Schweiz, denn dann sind die „Nachtbuben“ unterwegs. Nein, es sind keine „Nackt-Buben“, dieser Lesefehler ist uns beim ersten Mal auch unterlaufen. Darunter könnten wir uns ja noch etwas vorstellen. Ein Exhibitionist wird das sein, ein „Sittenstrolch“, wie er in Deutschland genannt wird. Aber ein „Nachtbube“? Vielleicht ist das ein sehr junger „Nachtwächter“?
Unser Duden kennt viele zusammengesetzte Wörter mit „Nacht“, darunter die „Nachtarbeit“, den „Nachtangriff“, das „Nachtmahl“ oder „Nachtlicht“, auch den „Nachtisch“, den wir streng vom „Nachttisch“ zu unterscheiden wissen. Ersteres kann man essen und es ist lecker, weil ein Dessert, letzteres diente früher zur Aufbewahrung des schwäbischen „Potschamberles“ = Pot-de-chambre = „Nachtopf“ (im Norden sagten wir schlicht „Pisspot“ dazu)
Umtreiben tun sie sich in der Schweiz, diese „Nachtbuben“, denn so heissen hier die bösen Kerle, die nur Nachts unterwegs und grundsätzlich immer an allem Schuld sind.
Nachtbuben am Werk
Im letzten Juli waren wiederum Nachtbuben in der Umgebung des Wild Ma Horstes in Aktion. Neben Verwüstungen wurde auch die Materialkiste aufgebrochen und das sich darin befindliche Material zum Teil verbrannt oder in den Rhein geschmissen. (Quelle🙂
Nachtbuben gibt es schon sehr lange in der Schweiz, wie diese Geschichte aus Rüti b. Büren im Seeland belegt:
Kurz vor der Jahrhundertwende war in Rüti des öfteren eine Gruppe so genannter Nachtbuben unterwegs. (Quelle: )
In Deutschland, zumindest im südlichen Teil, haben sich ähnliche Bräuche zur Walpurgisnacht (= die Nacht zum 1. Mai) und zu Halloween (= Nacht vor dem Feiertag „Allerheiligen“) eingebürgert. Da werden dann in ländlichen Gegenden schon mal Gartentore ausgehängt und verschleppt, oder Briefkästen mit Toilettenpapier verstopft und es passieren andere Scherze mehr.
Die Schweizer haben dafür das „Schulsilvester“ am letzten Schultag vor Weihnachten. Dann ist zwar noch nicht Silvester oder Weihnachten, das Schuljahr ist dann auch noch nicht um, aber die Schweizer Schulkinder stehen freiwillig irre früh auf, ziehen lärmend mit Töpfen und sonstigen Lärminstrumenten durch die Strassen, wecken ihre Lehrer und treiben in aller Herrgottsfrühe allerlei mehr oder weniger lustigen Schabernack im Ort. Später gibt es eine Party um 6.00 Uhr (in der Frühe!) im Schulhaus. Offiziell wird im Kanton Zürich immer wieder versucht, diese Art von Bräuche zu unterbinden, ohne Erfolg. Also wandelte man das Schulsilvester lieber um in eine Art organisiertes Schulfest, um die ausrastenden Kids besser unter Kontrolle halten zu können (Beispiel hier: ).
Und dann sind da noch unsere lustigen Freunde aus der Zeit des amerikanischen Schwarz-Weiss-Films, die kleinen Strolche:
Denen wurde es in den USA zu langweilig, also machten sie sich auf nach Europa, genauer gesagt in die Schweiz, klauten sich da ab und zu ein Auto, und gingen auf „Strolchenfahrt“.
362 Einträge verzeichnet Google für dieses Wort. Die sind also verdammt oft unterwegs, die kleinen Strolche. Und nie haben sie einen „Führerausweis“ oder „Führerschein“ dabei, denn der Schein trügt bekanntlich (siehe Blogwiese) .
Manchmal treffen die kleinen Strolche dann unterwegs die Nachtbuben:
Teure Strolchenfahrt für Berner Nachtbuben
Bern – «Parkschaden» von 65 000 Franken haben ein 14- und ein 16-jähriger Jugendlicher auf Strolchenfahrt am Samstag gegen 21.15 Uhr in Bern verursacht. Nach Polizeiangaben entwendete der 16- jährige den Wagen einer verwandten Person und raste durch die Stadt. (klei/sda) (Quelle🙂
Auch diesmal hilft der Duden weiter:
Strol|chen|fahrt, die (schweiz.): Fahrt mit einem entwendeten Fahrzeug
Und schon haben wir als Deutsche zwei neue Wörter gelernt: Die Strolchenfahrt und die Nachtbuben. Wir fragen uns dann: Wenn es diese Wörter in unserem Wortschatz bisher nicht gab, gab es dann die dazugehörigen Personen und Ereignisse in Deutschland auch nicht?
Kaum vorstellbar. So etwas passiert doch sicher auch in Deutschland. Wie sagt man dann dazu im deutschen Polizei-Jargon? Wir hoffen auf stichhaltige Beispiele von „ennet“ der Grenze und bleiben bis dahin ahnungslos.
Die Blogwiese wünscht allen Ihren Lesern ein Frohes Weihnachtsfest!
Dezember 24th, 2005 at 0:12
*gähn*
Musst du deine Beiträge immer genau gleich aufbauen? Ein bisschen Begriffsstutzigkeit, ein Blick in den Duden plus eine Prise Google…
Dezember 24th, 2005 at 7:49
Hallo David,
Danke für den konstruktiven Kommentar! Du hast natürlich Recht,
ich werde den Aufbau gleich morgen ändern:
Ein bisschen Enthüllungsjournalismus,
ein bisschen Sex&Crime,
ein bisschen Homestory,
ein bisschen Bauchbepinselung der Schweizer..
Ist es dann recht? Ich vergass noch: Ein bisschen für die Erhaltung des Weltfriedens!
Vielleicht doch lieber auf http://www.blick.ch schmökern?
Was tun wir nicht alles für unsere Leser.
Frohe Weihnachten auch!
Gruss, Jens
Dezember 24th, 2005 at 10:46
Pech für euch! Was jetzt folgt, hat gar nichts mit Weihnachten zu tun, und bei diesem Thema werde ich mich auch kaum kurz fassen können. Ich will es nämlich besonders für Einwanderungs-Deutsche verständlich schreiben. Pech auch für David, ich werde, wie immer, einfach ziemlich planlos drauflos schreiben.
Es gibt nicht nur gewöhnliche Nachtbuben und Strolche, wir kennen auch die „Stellbuben“:
Im Raum Solothurn, Bieler Seeland (z.B. Rüti b. Büren), Oberaargau (Kt. Bern!!) und vermutlich vielen anderen mir unbekannten ländlichen Gebieten wird noch heute eine alte Tradition gelebt, die für Aussenstehende nicht so einfach ersichtlich ist.
Im Dorf kennen sich alle JahrgängerInnen problemlos; sie gehen schliesslich all die Jahre gemeinsam zur Schule. Während der Berufslehre und der Mittelschule entfernen sie sich vom Dorf und sehen sich oft nur noch an Festen und Wochenenden (siehe Hundsverlochete). Die männlichen Jugendlichen des gleichen Dorfes sehen sich jedoch alle ein letztes Mal an dem Tag, an dem sie sich zum Militärdienst einschreiben müssen. (Jeweils ein Tag mit Truppen-Werbefilmen, sportlichen Prüfungen und einem Gesundheits-Check). Dieser Tag heisst „Stöutag/Steutag“ (Stell-Tag, je nach lokalem Dialekt), weil man sich der Militärpflicht stellen muss. Die betroffenen jungen Männer sind die „Stöubuebe/Steubuebe“ (Stell-Buben). Ist mal der Pflichtteil dieses Tages vorbei, muss mit viel Bier gefeiert werden, dass man für die im folgenden Jahr stattfindende Rekrutenschule einen „Schoggi-Job“ (leichte Aufgabe für Faule) gefasst hat. Oder der Frust über die Einteilung als „Füsu“ (Füsilier, mit viel Anstrengung verbunden) muss mit gleich viel Bier hinunter gespült werden.
Um noch ein letztes Mal etwas gemeinsam zu unternehmen, geht also diese 19jährige Dorfjugend am 30. April im Wald eine geeignete Tanne aussuchen, die als Maibaum („`s Meitannli“) gebraucht werden kann (heute meist in Zusammenarbeit mit dem Revierförster). Ähnlich der bayrischen Maibäume wird diese Tanne bis auf die Spitze entastet und geschält. Durch den ganzen Monat Mai steht also auf dem Dorfplatz eine Maitanne, die hölzerne Schilder trägt, mit den Vornamen aller Jahrgänger-Mädchen des Dorfes, welche ja von der Militärpflicht heute noch ausgenommen sind. Nach Aussagen älterer Leute stand früher vor dem Elternhaus jeden 19jährigen Mädchens eine solche Tanne (mit natürlich nur je einem Schild – Ausnahme Zwillingsschwestern). Das Verschwinden der Bauernhöfe und die Errichtung von Mietblocks auch in Dörfern brachte diese Holzverschwendung zum verschwinden.
Der Kauf, bzw. die „Busse“ (Strafe) für eine gefrevelte Tanne, deren Transport, sowie die zur gemeinsamen Anstrengung konsumierten Getränke müssen irgendwie finanziert werden. Also werden in den Dörfern von den Stellbuben in der Nacht vom 30.4. auf den 1.5. für durchfahrende Automobilisten Strassensperren errichtet, um von den Lenkern eine milde Gabe zu verlangen. Die Dorfbevölkerung muss sich ebenfalls beteiligen. Alles, was nicht niet- und nagelfest vor den Häusern steht, oder von einem Hund bzw Scharfschützen bewacht wird, wird geklaut und kann am 1.5. gegen Kaution vor der Tanne wiedergekauft werden. Natürlich sind Wegzölle und Kidnapping fremden Gutes strafbar. Die Kantonspolizei kann allerdings nicht überall gleichzeitig sein, und die Polizisten, die Autofahrer und die Hausbesitzer waren ja auch einmal 19jährig. Deshalb macht die Mehrheit bei diesem Treiben mit.
Wer also in der Nacht auf den 1. Mai 2006 oder in späteren Jahren in den kritischen Gebieten unterwegs ist, sollte sich von den frisch beim Ortsschild an den Boden gemalten Jahrzahlen, z.B. 1987 (Jahrgang der 19jährigen im 2006) warnen lassen. (Kein Geld dabei? Wagen wenden und zum nächsten Bankomaten viele kleine Scheine beziehen!)
Kurzfassung von oben bzw. Beweis für diese Tradition:
http://www.lommiswil.ch/portrait/geschichte/default.htm#d
Da bleibt die Freude über die „Tradition“ im Hals stecken:
http://www.sproggwil.ch/cgi-bin/aktuelles-01.htm
Frohe Weihnachten und viel Toleranz gegenüber allen Erdenbürgern
wünscht
Phipu
Dezember 24th, 2005 at 10:49
*schmunzel* Ja, so sind se, die Römer!
Dezember 24th, 2005 at 14:02
@Phipu: Es stimmt alles, und in der Gegend aus der ich stamme, war es auch vor wenigen Jahren noch üblich, dass man jedem Mädchen eine Tanne vors Haus stellt – das war auch keine besonders ländliche Gegend, sondern ganz durchschnittliches Solothurner Mittelland.
Dezember 24th, 2005 at 16:42
Hallo Jens,
[…]
Frohe Weihnachten euch allen,
Heinrich R.
Frage bitte nochmal per Mail,
Jens
Dezember 24th, 2005 at 22:47
Quakfrosch
Hallo David
Falls dir der Blog von Jens eine Nummer zu langweilig ist versuch es doch mal mit Pokemon, das ist doch sicher was für dich. Vielleicht schreibst du ja selber mal einen spritzigen, unterhaltsamen Blog, wir dürfen gespannt sein, was da Tolles raus kommt. Dein Blog wird sicher der Hit, wir warten schon gespannt, deine konstruktive Kritik lässt ein Feuerwerk der Fantasie vermuten.Wer so differenziert schreibt wie du, den wollen wir doch alle gerne täglich lesen in old Switzerland!
Schreib mir, ich bin ein Fan von dir!
Dezember 25th, 2005 at 11:40
An Geissenpeter:
Ich bin in der Stadt Solothurn aufgewachsen. Dort, wie in allen Orten, die sich „Stadt“ nennen dürfen, gibt es meines Wissens diese Maitannli-Tradition nicht*. Hingegen kennt man diesen Brauch in allen Dörfern ringsherum. In diesen kleineren Orten findet sich auch eher noch als in Städten ein landwirtschaftlicher Betrieb mit Traktor und Anhänger (günstiger Tannentransport) und jemand des Jahrgangs kennt den Förster persönlich. Abgesehen davon hätte die Stadtpolizei eine etwas effizientere Infrastruktur, als die Kantonspolizei mit etwa sieben Dörfern pro Posten. Daher meine Verwendung des Ausdrucks „ländlich“. Dies ist natürlich nicht abschätzig gemeint.
* = Ausnahme-Jahre gab es schon; da haben ein paar Spassvögel, aber nie der ganze Jahrgang, eine Maitanne in ein Schacht- [Gulli-] Loch mitten auf dem Marktplatz in Solothurn gesteckt. Wegzoll- und Warenentführungs-Geschichten sind mir nicht bekannt.
Erklärung an alle Interessierten:
In Städten (nach CH-Verhältnissen ab ca. 10’000 Einwohnern) kennt sich die Jahrgänger-Jugend viel weniger (mehrere Schulhäuser, häufige Zu- und Wegzüge, überhaupt zu viele Leute, um sich kennen zu können). Selbst der „Stell-Tag“ verteilt sich wegen der Anzahl der potentiellen Wehrpflichtigen (Stellbuben) auf mehrere Tage.
Die Kenntnisse in diesem Zusammenhang aller anderen Kommentatoren werde ich wohl erst nach Weihnachten lesen können.
Dezember 27th, 2005 at 10:37
Der am Häufigsten zu hörende Begriff für eine „Strolchenfahrt“ in Deutschland ist „Joyride“.
Januar 3rd, 2006 at 13:35
Hallo.
Auch von mir nachträglich ALLES GUTE IM NEUEN JAHR!
Kann das sein, dass die „Stellbuben“ das gleiche wie die „Stäcklibuebe“ sind? War der Meinung, dass hier in der Region schon so gehört zu haben.
Maibäume für die „Jahrgänger-Mädchen“ habe ich übrigens erst letztes Jahr – und davor natürlich auch jedes Jahr – wieder gesehen. Weiss nicht genau, wie die Ortschaft heisst… sie liegt zwischen Wohlen und Sins (also Richtung Zug / eher ländlich).
Januar 4th, 2006 at 11:58
An Clarissa
Stellbuben und Stäcklibuben sind dasselbe. Nach dem Wort googeln bringt Gewissheit. http://www.webmuseum.ch/Diversikum/Aargaugeo/Brittnau/brittnau3.cfm
Ob das Wort Stellbuben allerdings vom „der militärischen Pflicht stellen“ oder „Maitanne aufstellen“ kommt, beginne ich nun zu bezweifeln. „Stäckli“ deutet eher auf den Baumstamm hin, oder aber Stock (Stafettenlauf als sportliche Disziplin am Stelltag?).
Januar 4th, 2006 at 12:25
Hier habe ich bereits die Antwort auf meine Frage (ich lag ganz falsch)
http://people.ee.ethz.ch/~schaadfa/events/maitanne/maitanne_brauch.htm
http://64.233.183.104/search?q=cache:_nKWbcTsmQoJ:www.schweizer-soldat.ch/online-zeitung/ausgaben2003/september03/anriss0903.htm+st%C3%A4cklibuebe&hl=de
weitere Informationen und Bilder zum Thema
http://64.233.183.104/search?q=cache:MGiDIpXdGNAJ:www.obererlinsbach.ch/News/Grafik1/grafik1.htm+st%C3%A4cklibuebe&hl=de
http://www.sektionschef.ch/21549/24006.html?*session*id*key*=*session*id*val*
Juli 29th, 2006 at 15:37
Habe nun noch ein deutsches Wort für „Strolchenfahrt“ oder „Joyride“ entdeckt:
„Spritztour“:
http://www.20min.ch/news/kreuz_und_quer/story/14959182
Dezember 7th, 2006 at 21:22
Was sagen denn die Schweizer zu Weihnachten? Gibts da einen schwyzerischen Ausdruck? Viele Grüße!
Ilja