Schweizerdeutsch für Fortgeschrittene (Teil 14) — Vernehmen oder Vernehmen lassen
Wenn die Polizei in der Schweiz einen Verdächtigen festnimmt, dann wird er auf dem Revier von ihr nicht „vernommen“, sondern „einvernommen“. Das ist wichtig, denn das Wörtchen „vernehmen“ wird schon anderweitig gebraucht in der Schweiz. Wenn sich jemand „vernehmen lässt“, dann bedeutet das nicht, dass er freiwillig ins Verhörzimmer geht, um ein ungemütliches Tête-à-tête mit einem Hauptkommissar zu erleben. Vielmehr spricht man sehr laut und deutlich, um von den anderen wahrgenommen, gehört und „vernommen“ zu werden.
Offensichtlich besteht dafür in der Schweizer Politik, speziell im Schweizer Parlament, der „Bundesversammlung“ verstärkter Bedarf. Hier wimmelt es nämlich nur von Dingen, die andere vernommen haben wollen, die sie darum „vernehmen lassen“. „Die Vernehmlassung“ ist eine völlig normale Sache für die Schweizer: „Vernehme“ sie, oder lasse sie andere „vernehmen“, das ist der politische Alltag in Bern. Nicht so brutal wie einst bei James Bond mit „to live and let die“ = Leben und Sterben lassen“, aber doch ein bisschen in diese Richtung.
Wenn Sie als Schweizer in einem Gespräch mit einem deutschen Kollegen mal tüchtig Eindruck schinden wollen, dann bringen Sie dieses Wort einfach ganz beiläufig in Ihren Redenfluss unter: „Hast Du schon gehört, da gibt es wieder eine neue Vernehmlassung“.
Es wird ihm genauso unverständlich sein, wie „die Betreibung„, „die Betreibungsauskunft“ oder „die Verabgabung„. Je nachdem, wie lange Ihr Deutscher Kollege schon in der Schweiz lebt, können Sie folgende Reaktion beobachten:
1. Er versteht das Wort ohne Probleme, weil er sich für die Feinheiten der Schweizer Gesetzgebung interessiert.
2. Er versteht kein Wort, wird dies aber nicht zugeben, weil es für einen Deutschen einfach unmöglich ist, offen einzugestehen, dass er mal wieder ein hübsches Nomen seiner eigenen Muttersprache nicht kennt.
3. Er versteht nichts, wird aber sofort nachfragen, wer sich jetzt hier auf was einlassen möchte bei der Vernehmung.
Bei dem Wort „Vernehmlassung“ haben wir Deutsche das Problem, dass es dafür keine Entsprechung in Deutschland gibt. Die politische Tradition ist eine andere. In Deutschland ist das eine „Anhörung„, bei der wir nichts vernehmen sondern uns einfach nur zugehört wird.
Man sieht hierbei deutlich den himmelweiten Unterschied im Demokratieverständnis der Deutschen und der Schweizer: Während in Deutschland ein Gesetz im Parlament vorgelesen wird und die Abgeordneten darüber dann diskutieren können, geht in der Schweiz ein Gesetz in die „Vernehmlassung„, es wird von allen Beteiligten gefordert, einen Kommentar abzuliefern.
In Amerika und in der IT-Welt nennt man diesen Vorgang „RFC“ = „Request For Comments“. So werden die Definitionspapiere zur Computer-Standarisierungen betitelt. Über RFCs wird so gut wie alles in der IT-Technik genormt. Nur will hier niemand tatsächlich mehr einen „comment“ hören, denn wenn ein RFC draussen ist, ist es bereits Norm und hat den Zustand des „Drafts“ = Entwurfs schon hinter sich gebracht.
Schauen wir, was Wikipedia zu Vernehmlassung meint:
Die Vernehmlassung oder das Vernehmlassungsverfahren ist eine wichtige Phase im schweizerischen Gesetzgebungsverfahren. Bei der Vorbereitung wichtiger Erlasse und anderer Vorhaben von grosser Tragweite sowie bei wichtigen völkerrechtlichen Verträgen werden die Kantone, die politischen Parteien und die interessierten Kreise (insb. Verbände) zur Stellungnahme eingeladen. Das Ziel ist, die Erfolgschancen des Projektes im weiteren Gesetzgebungsprozess abschätzen zu können. Insbesondere im Hinblick auf ein mögliches Referendum ist es in der Schweizer Politik wichtig, bei der Vernehmlassung alle wichtigen Interessengruppen zu konsultieren, um so genannt „referendumssichere“ Vorlagen präsentieren zu können. Auch wer nicht persönlich zum Vernehmlassungsverfahren eingeladen wird, kann sich zu einer Vorlage äussern, auch als Einzelperson. (Quelle🙂
Aber ich denke es wird Zeit, das Thema „Vernehmlassung“ jetzt zu lassen, es „vernimmt“uns sowieso keiner, denn schliesslich ist heute Weihnachtsfeiertag. Und dann ausgerechnet dieses Thema, so trocken wie eine Schachtel Spekulatius-Kekse vom Vorjahr….