Heute schon bös geschnitzert? — Neue Schweizer Lieblingswörter

April 19th, 2011

(reload vom 11.5.07)

  • Zigeuner oder Jäger?
  • Ein Schnitzel ist etwas Feines, und dazu etwas extrem Deutsches, auch wenn es „Wiener Schnitzel“ genannt wird. Man kann es in Deutschland als „Zigeunerschnitzel“ oder als „Jägerschnitzel“ bestellen, je nach dem, ob man mehr Paprika aus dem Glas oder lecker Pilze aus der Dose dabei haben möchte.

  • Willst Du lieber ein Plätzli oder ein Plätzchen?
  • Das „Schnitzel“ ist laut unserem Variantenwörterbuch Gemeindeutsch, es macht in Deutschland aber gern ein wenig Platz für das Schweizer „Plätzli“. Nein, so heissen keine kleinen Plätze in der Schweiz. Denn solche „Plätzlis“ kann man essen, sie sind ebenfalls aus Fleisch, zu erkennen am Beiwort, nicht an den Pilzen. Wir unterscheiden „Rindsplätzli“, „Schweinsplätzli“ (der wahre Kenner beachte das seltener Fugen-S!), aber auch „Saftplätzli“ (aus Saft gewonnen?) und „Huftplätzli“. Wobei dieses „Huft“ wahrscheinlich die Schweizer Kurzform für alle „Huftiere“ im Allgemeinen sein mag, keine Ahnung.

    Mit den Deutschen „Plätzchen“ hat das alles wenig zu tun, die sind süss und heissen in der Schweiz „Guetzli“ oder „Biskuit“. Schnitzel werden geschnitten, und nicht „geschnitzelt“, obwohl diese Verben eng verwandt sind. In Deutschland kannten wir dann noch „Schnitzen“ als entspannende Freizeitbeschäftigung mit Messer und Holz. Dabei fallen „Schnitze“ ab, die können auch aus Obst erstellt werden. Apfelschnitze zum Beispiel. Aus dem Duden lernen wir, was schnitzen mit schneiden zu tun hat. Es ist die „Intensivbildung“:

    schnitzen [mhd. snitzen, Intensivbildung zu schneiden]: a) mit einem Messer kleine Stücke, Späne von etw. (bes. Holz) abschneiden, um so eine Figur, einen Gegenstand, eine bestimmte Form herzustellen: sie kann gut s.;
    b) schnitzend herstellen: eine Madonna s.; c) durch Schnitzen an einer Sache anbringen: eine Inschrift in eine Holztafel s.
    (Quelle: Duden.de)

  • Nicht schnitzen sondern schnitzern
  • Doch dann gibt es ja da noch den Tages-Anzeiger mit seiner täglichen Lektion Schweizerdeutsch. In ihm lasen wir neulich:

    Dass die Verantwortlichen der Zürcher Kantonalbank bös geschnitzert haben, steht fest. Nur, die ZKB ist eine Bank. Sie hat von Gesetzes wegen den Auftrag, Geld zu verdienen.
    (Quelle: Tages-Anzeiger vom 5.5.07)

    boesgeschnitzert.jpg

    Eine Erfindung des Journalisten Bruno Schletti? Weit gefehlt, denn „böse“, „arg“ oder „grob geschnitzert“ wird laut Google-CH noch an 915 weiteren Stellen in der Schweiz. Erstaunlich, dass weder Kurt Meyer in seinem Schweizer Wörterbuch noch das Variantenwörterbuch aus dem De Gruyter Verlag diese Verbform erwähnt. Vielleicht haben die auch grob geschnitzert?

    Ab sofort, beschliessen wir, werden wir nie wieder Fehler machen sondern nur noch grob schnitzern. Ein Schnitzmesser oder Schnitzermesser braucht es offensichtlich nicht dazu.

    Enjoy your trip — Über die Zugansagen in Deutschland und in der Schweiz

    April 13th, 2011

    (reload vom 10.5.07)

  • Enjoy your trip
  • Ich sitze in einem Waggon der SBB und geniesse die Aussicht auf den Walensee. Soeben wurde ich von einer freundlichen weiblichen Lautsprecherstimme in drei Sprachen aufgefordert, die Fahrt zu geniessen. Besonders sexy finde ich die britische Aussprache. Oder ist das doch Amerikanisch? „Enjoy your trip!“ wäre in den 60ern noch als eine Aufforderung zum intensiven LSD-Genuss gewertet worden.

  • Wozu das blaue Lautsprechersignal?
  • Die perfekte Aussprache der SBB Ansagen ist einerseits ein Hörgenuss, andersseits aber auch schrecklich langweilig und nervtötend, weil es immer exakt der gleiche Wortlaut ist, den man als Vielfahrer zu hören bekommt. Vielleicht bedeutet das blaue „Lautsprecher“ Lämpchen in Schweizer Zügen, dass man sich jetzt intensiv die Ohren zuhalten soll, um die Ansage nicht erneut zu hören? Nein, dieses blaue Lämpchen ist für Gehörlose. Sie wissen nun, dass sie soeben eine Ansage verpasst haben. Oder sollten sie sich nun auf die Suche nach einem Gebärdendolmetscher machen, der den angesagten Text für sie übersetzt? Was soll dieses Signal?

    Dann schon lieber die stammelnde Wortakrobatik des Deutschen Schaffners auf der ICE Strecke von Zürich nach Stuttgart. Unglaublich, wie da die Phrasen geübt wurden und das beste Schulenglisch herhalten muss, um garantiert jede Haltstation der schwäbischen Eisenbahn zunächst auf Deutsch und dann auf Englisch vorzulesen. Haben diese Schaffner eigentlich eine Werbevertrag mit einer Sprachschule? So nach der Devise: „Wenn sie nicht auch so enden wollen, dann besuchen Sie jetzt unseren Kurs!“

  • Mit mobiler Sprechstelle im Zug unterwegs
  • Die Deutschen Schaffner müssen jetzt auch nicht mehr zu irgendeiner Sprechstelle im Zug laufen und einen Hörer mit Kabel aus einem abgeschlossenen Fach kramen. Nein, seit einiger Zeit geht das kabellos, Verzeihung, „wireless“ natürlich. Mitten im Abteil, während der Fahrkartentrolle, zückt so ein Bahn-Schaffner ein Handy ähnliches Gerät, sagt kurz den nächsten Bahnhof an und setzt dann die Kontrolle fort, als sei nichts gewesen. Wow! Soviel Mobilität ist im Jahr 2007 also möglich für das Zugpersonal, an ein PWLAN für alle Fahrgäste haben sie allerdings immer noch nicht gedacht.

  • Mit Ironie doch besser nie
  • Es fragte mich im Zug von Chur nach Zürich der Schweizer Schaffner, der sich lieber „Kondukteur“ nennt, beim Betreten des Zugabteils: „Alle Billette vorweisen bitte“, worauf ich ihm sagte: „Alle kann ich ihnen nicht vorweisen, ich habe nur eins“. Gleich wurde ich belehrt: „Ja, das ist weil sie sind nicht allein in diesem Abteil, es gibt noch anderen Fahrgäste.“

    Was war passiert? Ich versuchte eine ironischen-flapsige Bemerkung loszuwerden und geriet an den knallharten Realitätssinn des Zugbegleiters. Er dachte sich wohl: „Dieser Fahrgast hat nicht verstanden, dass er mir nicht alle Billette im Abteil vorzeigen soll, sondern nur sein persönliches, also muss ich ihm meine Aussage doch erklären.“

  • Den Witz besser immer ankündigen
  • Ironie im Alltag, als Deutscher in der Schweiz? Ein äusserst diffiziles und risikoreiches Unterfangen, wie dieses kleine Erlebnis beweist. Vielleicht hätte ich mit einem deutlich artikulierten „ho ho ho“ zum Ausdruck bringen sollen, dass meine Bemerkung als Scherz gemeint war. Lächeln allein genügt nicht.

    Hatte ich schon den Duden-Eintrag zum Kondukteur erwähnt?

    Kondukteur der; -s, -e fr. conducteur zu conduire „lenken, führen“, dies aus lat. conducere>: (schweiz., sonst veraltet) [Straßen-, Eisenbahn]schaffner.
    (Quelle: duden.de)

    Wie so häufig bewertet der Duden ein Wort aus der Schweiz als im übrigen deutschen Sprachraum „veraltet“.

  • Wissen Sie, was ein KiNS und ein KiNC ist?
  • Die Deutsche Bahn ist da kreativer und entwickelt, laut Wikipedia, ständig neue Abkürzungen und Bezeichnungen für die Herren und Damen Zugführer:

    Im Regionalverkehr der DB AG wird der Zugführer intern auch als Kundenbetreuer im Nahverkehr/Bahnbetrieb (KiN B) bezeichnet. Er trägt das rote Zugführer-Armband auch hier, wenn ihm Zugschaffner (KiN) zugeteilt sind. Die Kundenbetreuer im Nahverkehr sind in kleinen Gruppen zusammengefasst; deren Leiter ist der Gruppenchef (KiN C). Der KiN S ist sein Stellvertreter
    (Quelle: Wikipedia)

    Den nächsten KiN B oder KiN C oder KiN S werde ich gleich befragen, ob ihm all diese Abkürzungen wirklich bekannt sind. Wahrscheinlich demonstriert mir der Gefragte dann gleich die hohe Kunst des „SABVA“. Das kennen Sie nicht? Das ist die oberste Direktive für Mitarbeiter im Support, wenn sie Angesichts eines schwierigen Problems vor dem Kunden keine Lösung wissen. Es steht für „Sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit“.

    Matur, Matura, Abitur und eine Reifeprüfung

    April 7th, 2011

    (reload vom 9.5.07)

  • The Graduate ist kein Abitur sondern ein Film
  • Der wunderbare amerikanische Filmklassiker „The Graduate“ kam in Deutschland 1967 als „Die Reifeprüfung“ in die Kinos. Das ist jetzt 40 Jahre her, und der Hauptdarsteller Dustin Hoffmann ist immer noch auf der Leinwand zu sehen, zuletzt 2006 in der opulenten Verfilmung von „Das Parfum“. Nebenbei bemerkt ist das wahrscheinlich für so manchen Deutschen Jugendlichen der einzige Roman bzw. die einzige „Ganzschrift“, die er komplett gelesen hat, denn das Werk steht in vielen Bundesländern auf der Leseliste für die 10. Klasse. Nach dem Motto: Wenn die Jugendlichen sowieso nie wieder etwas lesen werden in ihrem Leben, dann sollen sie zumindest einmal ein gutes und spannendes Buch geniessen dürfen. Doch leider geht das nicht ohne die übliche Analyse, das ausgiebige Zerpflücken des Stoffes und der Handlung. Heerscharen von arbeitslosen Germanisten haben bereits ganze Arbeit geleistet bei der Erstellung von „Sekundärliteratur“, die sich kurz vor der Prüfung verkauft wie warme Semmel.

  • Früher Homo faber, heute das Parfum
  • Vor 16 Jahren galt noch Max Frisch Roman „Homo faber“ als das übliche und meist gelesenste Werk für die 11. Klasse am Gymnasium. Wer selbst dieses dünne Buch nicht schaffte, der konnte immerhin noch auf die Verfilmung von Volker Schlöndorff zurückgreifen und sich dabei wie der Romanheld in Julie Delpy vergucken. Von Helvetismen ist in dem Roman wenig zu spüren. Er ist auch 10 Jahre älter als „The Graduate“ und wurde wahrscheinlich von den Deutschen Lektoren gründlich auf Standard-Hochdeutsch getrimmt worden. Als Folge dieser 11. Klasse-Lektüre werden Jahr für Jahr etliche Hausarbeiten zum Thema „Die Frauenfiguren in Homo Faber“ in Proseminare zur Neuen Deutschen Literaturwissenschaft erstellt. Die vergammeln dann im Schrank des Literaturprofessors, gleich neben den Arbeiten zu Camus „La Peste“, dem zweiten Klassiker der Schullektüre.

  • Schweizer machen kein Abitur sondern Matur
  • Das Deutsche Abitur heisst in Wirklichkeit und auf Beamtendeutsch „Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife“. Die Schweizer haben es da kürzer mit der „Matura“ oder besser noch, „die Matur“. Das Wort findet sich bei Google-CH 75.000 Mal in dieser Kurzfassung und 188.000 Mal in der Langfassung mit dem „a“ am Ende. Was es bedeutet? „Reifeprüfung“, was sonst.

  • Maturaarbeit über die Deutschen in der Schweiz
  • Während in Deutschland die Abiturienten bis zu den letzten Prüfungen viel Zeit zum Lernen haben, müssen sie in der Schweiz noch eine Arbeit abliefern, die „Maturaarbeit“ mit zwei hübschen Vokalen in der Mitte, weswegen sie oft auch „Matura-Arbeit“ geschrieben wird.

    Warum Schweizer historisch gesehen Deutsche sind

    April 3rd, 2011

    (reload vom 08.5.07)
    (Letzter Teil des Beitrags von Ingomar König)

  • Woher stammt das Vorbild für das Schweizer Kreuz?
  • Und jetzt, liebe Nachbarn, müsst Ihr ganz tapfer sein. Den echten Schweizern/Schwyzern, den waldstättischen, ihnen wurde einst vom Kaiser das Recht verliehen, sowohl die blutrote Fahne zu führen als auch in ihr die Kreuzigung Christi in Form eines weissen Kreuzes darzustellen. Dieses Symbol wurde gar „heilig Rych“ genannt, es war das offizielle Symbol des alten Deutschen Reiches bis etwa 1400, und auch die Stadt Wien erhielt das Recht, es (bis heute) zu führen. Einerseits kaum zu glauben: das weisse Kreuz auf rotem Grund, ein deutsches Symbol und viel älter als die schwarz-rot-goldene Trikolore; andererseits völlig logisch, dass der „Grosse Bund Oberdeutscher Lande“ ein deutsches Symbol führt. Auch das heutige Österreich, die Krondomäne der römisch-deutschen Kaiser, und das heutige Deutschland könnten dieses Staatssymbol für sich beanspruchen. Aber keine Angst, euer Gewohnheitsrecht auf das „Heilige Reich“, von Euch zum „Schweizerkreuz“ erklärt, wird Euch niemand streitig machen.

    Noch einige i-Tüpfelchen: Der Begriff „Reichsdeutsche“ (bis 1945) stammt von Euch. Und was hätte er für einen Sinn, wenn es nicht außerhalb des „Reiches“ weitere Deutsche gäbe? Noch Gottfried Keller nannte sich einen „deutschen Schriftsteller“ und seit 1948 sorgt sich der Rottenbund („Rhône-Bund“) um das „Deutschtum“ in Sitten und im Oberwallis, das er durch welsche Dominanz auf gesamtkantonaler Ebene bedrängt zu sehen glaubt. Und Adolf Muschg hat darauf hingewiesen, dass bis zum Ersten Weltkrieg kein Deutschweizer den deutschen Staat als wirkliches Ausland empfunden hat.

    Liebe nicht-lateinischen Eidgenossen, Ihr ahnt, worauf hinaus ich will. Auf die eiskalte, logische Konsequenz Eurer (und unserer) Geschichte, die Natur der Sache, die auszusprechen ich kaum wage:

  • IHR SEID SELBST DEUTSCHE !!!
  • Ich hoffe, mit dieser historischen Banalität keinen Sturm der Entrüstung auszulösen; wenn doch, so bitte ich um Gnade, denn es ist die Wahrheit und nichts als dieselbe. Ich werde den Verdacht nicht los, dass hier die wahre Ursache des „Reizthemas“ liegt. Ihr huldigt ganz offensichtlich dem Motto: Die grössten Kritiker der Elche war’n früher selber welche. La Suisse – un pays vraiment germanique.

    Natürlich denkt Ihr an die Angehörigen des heutigen Staates Deutschland, wenn Ihr die Deutschen sagt, an die Bewohner des Staates, dessen Vor-Vor-Vor-Vorgänger Ihr verlassen habt und von dem abzugrenzen nicht nur Euer gutes Recht, sondern die pure Selbstverständlichkeit ist. Aber warum soviel Aufhebens um eine Selbstverständlichkeit? Befürchtet Ihr, dass irgend jemand in Deutschland Eure Eigenstaatlichkeit nicht respektiert, Euch gar annektieren will? (Die Nazi-Barbaren hatten dies vielleicht vor, aber sie hätten sich die Zähne an Euch ausgebissen, und die Mehrheit der Deutschen hätte sich darüber empört.) Glaubt Ihr, die Wirtschafts- und Technologiemacht Schweiz würde von den Deutschen nicht ernst genommen? Warum also, so frage ich Euch, wedelt Ihr mit dem roten Tuch, wenn weit und breit kein Stier zu sehen ist? Dass Italiener sich von Norwegern unterscheiden, ist so selbstverständlich, dass niemand auch nur ein Wort darüber verliert. Wenn man sich aber erst unterscheiden und mental abgrenzen will, können die Unterschiede so gross nicht sein.

  • Deutsche und ethnische Deutsche
  • Obwohl neun Nachfolgestaaten sich das Erbe des alten „Heiligen“ Römischen Reiches Deutscher Nation teilen, wird seine „Rechtsnachfolgerschaft“ und Kontinuität „landläufig“ dem heutigen Deutschland zugeschrieben. Steht ihm deswegen ein Exklusivrecht auf das Attribut „deutsch“ zu, nur weil es „Titular“-Nachfolgestaat und zudem der grösste ist? (Ich sehe hier vom romanischen Teil Belgiens und den slawischen Ländern Böhmen-Mähren und Slowenien ab.) „Deutsche“ im Sinne der Staatsbürgerschaft Deutschlands und „Deutsche“ im ethnischen Sinne setzt Ihr wohl absichtlich gleich, um zu kaschieren, dass Ihr selbst ethnische Deutsche seid. Aber warum???

    Weil Ihr selbst nicht so richtig wisst, was „die Schweiz“ eigentlich ist. Am Anfang stand ein Bündnisgeflecht oberdeutscher Stadtrepubliken, das mit den bäuerlichen Eidgenossen der Waldstätte und weiteren ländlichen Verbündeten sowie den Zugewandten Orten minderen Rechts eher widerwillig zu einem geschlossen Territorium zusammengewachsen ist. Ergebnis von Eroberungen und Einkaufstouren der oberdeutschen Orte sind die welschen und ennetbirgischen Gebiete; allein der Stadtstaat Genf hat sich freiwillig angeschlossen, um den Savoyarden zu widerstehen. Die Romanen in den drei rätischen Bünden sind Opfer hemmungsloser Germanisierung, was ihre heute so geringe Zahl erklärt.

    Die patrizische graue Eminenz widmete sich dem Handel, dem Geldzählen und der Ausplünderung der Bauern in ihren Landschaften, Untertanenlanden, Vogteien und Gemeinen Herrschaften. Dafür überliess sie den Waldstättern gönnerhaft das Kriegshandwerk, die Symbolik des Schweizerkreuzes, den Namen „Eidgenossenschaft“ und die Territorialbezeichnung „Schwyz/Schwiiz/Schweiz“. In ihrer bieder-patriarchalischen Gentilordnung, christkatholischen Demut und altdeutschen Einfalt merkten die Waldstätter nicht, dass sie von den listigen Luzernern, Zürchern, Bernern und Baslern jahrhundertelang vorgeführt und benutzt worden waren. Als sie im Sonderbund aufmuckten und ihre selbstgenügsame Idylle durch die städtischen Orte zerstört wurde, dämmerte den Waldstättern, was die Glocke geschlagen hatte und worin das Wesen des „Oberdeutschen Bundes“ wirklich bestanden hatte. Den Weg zum „richtigen“, modernen Bundesstaat konnten sie nicht mehr versperren. Der eidgenössische Mohr hatte seine Schuldigkeit getan, er konnte gehen. Die Insignien „Eidgenossenschaft“ und „Schweiz“ musste er jedoch zurücklassen.

    „Die Schweiz“, das ist nicht Bern, nicht Zürich, nicht Basel, noch St. Gallen, schon gar nicht Genf oder Bellinzona, das ist nur der waldstättische Ort Schwyz. „Eidgenossen“: das sind nur Schwyz, Uri und Nidwalden. „Helvetien“: das war das Land vor dem Einfall der Alemannen. Was bleibt? Ein Gemeinwesen in einem Teil Alemanniens, in einem Teil der „Oberdeutschen Lande“, angereichert um ein paar „lateinische“ Gebiete. Und der Mythos des Rütli-Schwurs, gäbe es ihn ohne des Deutschen Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“, diese Hommage an Euren Staat und Pflichtlektüre am deutschen Gymnasium? Ein über alle Kritik erhabenes Œuvre der Weltliteratur für wahr; nach Massstäben der „historischen Korrektheit“ liegt es jedoch gründlich daneben. Jetzt macht Ihr selbst den Mythos zu einer anachronistischen und lästigen Pflichtübung. Nach Patrizierart Aufwand und Nutzen kühl abwägend, will der Bund keine Kosten für die Rütli-Feier 2007 am zum Bade lächelnden See übernehmen. Werner Stauffacher, Walter Fürst (oder Wilhelm Tell?) und Arnold von Melchtal würden sich im Grabe umdrehen. Für diesen Anschlag auf Euer Selbstverständnis nimmt der Chef Eures Justiz- und Polizeidepartements kaltherzig den Föderalismus in Anspruch, was nur am württembergischen Anteil seiner Gene liegen kann. Der „Oberdeutsche Bund“, ist er noch immer ein seelenloses Zweckbündnis, beherrscht vom „Kantönli-Geist“?

  • Und was ist das Schweizervolk?
  • Alles, nur keine Nation; von den Rändern abgebröckelte Fragmente der deutschen, französischen und italienischen Nation. Zusammengeführt durch historischen Zufall, hat es aus der Not die Tugend der „Willensnation“ gemacht. Aber Ihr müsst doch keine Nation sein. Als wäre es eine Schande leidet der staatstragende deutsche Teil des Schweizervolkes darunter, eine Ausnahme unter den Gesellschaften Europas zu sein, eine durchaus rühmliche, wie ich finde. Ihr braucht wegen der Abspaltung vom Reich kein schlechtes Gewissen zu haben und Euch gegenüber dem heutigen Deutschland einem permanenten psychologischen Rechtfertigungsdruck auszusetzen. Die Welt wäre ärmer ohne die Schweiz, wie sie heute ist. Aber nein, wie sagte doch Karl Barth, der Berner Theologe, der mit seiner antifaschistischen Gesinnung den Bürgern des deutschen Staates solidarisch beistand? „Wir können gar nicht Schweizer sein, ohne uns schlecht oder recht gerade mit den Deutschen auseinanderzusetzen.“

    Man lasse sich diese Worte auf der Zunge zergehen, und man versteht, warum Ihr innerlich über den Deutschen frohlockt, der in einer Schweizer „Beiz“ sein Bier im Kasernenhofton herbeibefiehlt. Gäbe es diesen Deutschen nicht, müsstet Ihr ihn Euch backen. Denn der Deutschschweizer an sich braucht den tumben, schnarrend Kommandos bellenden preussischen Feldwe(i)bel, weil nur von dieser deutschen Peinlichkeit er sich vorzüglich abgrenzen kann. Szenen aus dem Alltag erscheinen so in anderem Licht. Serbische, albanische oder italienische Kellner im Café, deren redliches Bemühen, alemannisch („schweizerdeutsch“) zu sprechen, von den Gästen kaum verstanden wird: kein Problem. Kellner aus Deutschland, die standardhochdeutsch mit den Gästen sprechen: ein Skandal. (Dass diese Sprache in der deutschen Schweiz die amtliche ist, zählt nicht, denn sie wurde von „reichsdeutschen“ Spionen in Euren Verfassungstext hineingeschmuggelt. Stichwort: „Import“!). Bauarbeiter aus Deutschland, den Schweizer Kollegen in der Mentalität praktisch gleich: eine Unverschämtheit, dass sie so gleich sind. Die grauenhafteste Vorstellung: der höflich-sympathische Deutsche oder der aus der alemannischen Nachbarschaft, der dem Germano-Eidgenossen wie ein Ei dem anderen gleicht.

    Ob sie sich in der Schweiz aufhalten oder nicht, ob sie arrogant oder sympathisch sind: Die Deutschen stören einfach qua Existenz die deutsche Schweiz in ihrer Identität und sind gleichzeitig für eben diese Identität die lebensnotwendige conditio sine qua non. Das erklärt die Sonderstellung der „Reichsdeutschen“ unter den Nicht-Schweizern, das ist Eure psychologische Crux, Ihr Bedauernswerten. Der eidgenössischen Kohäsion dagegen droht Gefahr: keineswegs durch Euren Dialektgebrauch, sondern durch Eure pathologische Weigerung, auch Standardhochdeutsch zu sprechen, die Sprachform, die Ihr immer als preussisch-zackig „empfindet“, selbst dann, wenn zärtliche Worte der Liebe in ihr gesäuselt werden; und durch Eure Gepflogenheit, Dialekt und Standardsprache schärfstens von einander zu trennen; und schliesslich durch das Englische als lingua franca, weil Englisch bei Euch Deutsch-Schweizern „beliebt“, Französisch dagegen „unbeliebt“ geworden ist. Das einzig Volk von Brüdern, es verschmäht seine „Brudersprachen“ und kürt zur innerschweizer Kommunikation die englische Sprache – wie Brasilianer und Inder, die sich verständigen wollen. Ich fasse es nicht. Lebt Ihr nur noch nebeneinander anstatt miteinander? Zerfällt das Schweizervolk in seine ethnischen Bestandteile?

  • Fazit
  • Heute wird sich über zu viele Deutsche échauffiert. Sollten morgen die Deutschen in Scharen Euer Land verlassen, so wird man sich entrüsten: „Diese treulosen Deutschen lassen uns im Stich.“ Wie sie es auch machen, es ist immer falsch. Die Deutschen sind und bleiben der negative Massstab. Unfreiwillig „outet“ Ihr Euch als Volk, das „deutscher“ ist als die Deutschen. Mein Gott, wie unheimlich, aber auch, was für ein Verhältnis zu den Deutschen, so intim, wie zu keinem anderen Staatsvolk.

    Liebe Nachbarn, ich habe Eure alemannische Zurückhaltung und Bescheidenheit einer starken Zumutung ausgesetzt. Deshalb nun genug der garstigen Worte, die ich mir von der Seele schreiben musste. Überzeichnet, gewiss, allein dem Ziele dienend, dass Ihr mit Eurer Deutschen-Hass-Liebe die Kirche im Dorf lasst; in der Hoffnung, nicht wie ein besserwisserischer Schulmeister Euch Dinge gesagt zu haben, die Ihr selbst wisst, sondern in der Vermutung, Tiefenströmungen der deutschschweizer Seele an die Oberfläche geholt zu haben, die der Deutschschweizer genau kennt, über die er aber nicht spricht. Meine Achtung vor dem Schweizervolk ist nicht erschüttert, Eure Hilfsbereitschaft den Deutschen gegenüber nach dem 2. Weltkrieg ist mir wohl bewusst. Und natürlich seid Ihr eine autonome Gesellschaft mit z.T. gleichen, aber eben auch anderen gesellschaftlichen Gepflogenheiten und Umgangsformen, die jeder Auswärtige zu respektieren hat, der sich bei Euch niederlässt. Ich bin mir sicher, dass die allermeisten der bei Euch lebenden „Deutschland-Deutschen“ dies auch tun – manche vielleicht erst nach einer gewissen Eingewöhnungszeit. Aber sie tun es. Ohne ihre Sprache würdet Ihr sie gar nicht wahrnehmen.

    Oder ist die ganze Aufregung am Ende ein Sturm im Wasserglas? Steckt hinter dem „Reizthema“ womöglich nur die alte Erfahrung: „Was sich liebt, das neckt sich“?

    In der Hoffnung, dass letzteres zutrifft, verbleibt mit freundlichen Grüssen,
    ein Nachbar des Schweizervolkes, der diesem zuliebe bewusst auf die sz-/ss-Ligatur „ß“ verzichtet hat.
    Ingomar König