Dialektik der Heidi II. Teil – Fräulein Rottenmeier aus der Schweiz
[Hier folgt nun der versprochene zweite Teil der Heide Interpretation unseres Lesers „Neuromat“]
Das ist Fräulein Rottenmeier:
(Quelle Foto: www.spiegel.de)
dies könnte Fräulein Rottenmeier sein
(Quelle Foto: blog.zvab.com)
ist es aber nicht; denn es ist die Autorin, die stammt bekanntlich aus der Schweiz.
Nachdem wir in der letzten Folge lernen durften, weshalb Heidi eine Deutsche ist und wie sich der Name Rottenmeier nun zusammensetzt, schreiten wir nun angesichts einer sozialwissenschaftlich Literaturbesprechung zum Äussersten: Wir wenden uns dem Text zu. Das ist vergleichbar einem Journalisten, der in einer Legebatterie übernachtet, wenn er über moderne Tierhaltung berichtet oder einem Chefarzt, der seinen Patienten tatsächlich selber untersucht.
Fräulein Rottenmeier nimmt Einsitz in die Handlung mit der Ankunft Heidis in Frankfurt. Das Erste, was wir von ihr lesen ist:
„Sie hatte eine geheimnisvolle Hülle um sich, einen grossen Kragen am Halbmantel, welcher dem Fräulein einen feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine von hochgebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug.“
Wir erkennen sofort, hier handelt es sich um eine personifizierte Alpennachbildung. Da geht es in die Höhe mit einer hochgebauten Kuppel. Das muss das Sphinx-Observatorium auf dem Jungfraujoch sein. Da sind wir Ganz oben – das ist Top of Europe. Welch klare Bedeutung bekommt hier das Wort Jungfraujoch. Und was hat es mit dieser geheimnisvollen Hülle auf sich. Eben das wissen wir nicht. Sonst wäre sie ja nicht mehr geheimnisvoll. Aber, was wir von der Schweiz – ausser Geheimnisvollem.
(Quelle Foto: hansbuehler-fotopages.ch)
Fräulein Rottenmeier möchte sofort wissen, mit wem sie es zu tun hat. Die wichtigste Frage ist für sie ganz offensichtlich die nach der Herkunft. Die Frage nach dem Namen, damit nach dem Geschlecht ist in der Schweiz traditionell mit der Herkunft verbunden. Dies kann Heidi nicht beantworten, was sie unumwunden zugibt und daraufhin fällt ein sehr interessanter Satz:
„Sie ist nicht einfältig und auch nicht schnippisch, davon weiss sie gar nichts; sie meint alles so, wie sie redet.“
Damit ist Heidi gemeint. Dete erläutert der alpinen alles observierenden Sphinxkuppel, dass Heidi nun einmal sehr direkt ist in ihren Äusserungen. Wer jetzt noch behaupten will, dass Heidi Schweizerin sei und diese Direktheit noch einen idealer helvetischer Wesenszug darstellt, der sollte seinen Bierkonsum kritisch überprüfen. Die deutsche Heidi befindet sich in der klassischen Situation des deutschen Einwanderers:
„Sie ist heute zum ersten Mal in einem Herrenhaus und kennt die gute Manier nicht; doch ist sie willig und nicht ungelehrig.“
In dieser Situation kann Rottenmeier nur noch zum entsprechenden helvetischen Pendant werden. Dieses zeigt sich erschrocken, ringt mit Fassung, ist sichtlich enerviert aber stets bemüht, die Ruhe zu bewahren, wenn es darum geht, den Gästen zu erläutern, wie man sich als Gast richtig zu verhalten hat. Leicht lassen sich hunderte von eben solchen belehrenden helvetischen Blogeinträgen auflisten, wie dies nun so und nicht anders in der Schweiz gemacht wird, aber statt dessen nehmen wir uns erneut den Text vor:
„rief in höchstem Schrecken aus …Minuten, in denen sie nach Fassung rang … sichtlich aufgeregt… mit schwer erzwungener Ruhe…(…)“
Gerade diese schwer erzwungene Ruhe, diese Aggressionsgehemmtheit gepaart mit dem bekannten theatralisiertem Erschrockensein, das kleine Fäustlein unter dem Rockzipfel zur Faust geballt, gerade die kennen wir doch zur Genüge. Genauso wie die nicht enden wollenden Hinweise, wie das Papier korrekt zu bündeln ist, wie man sich formal richtig begrüsst und die Dinge des Lebens auf die einzig richtige, nämlich die schweizerische Art und Weise, erledigt:
Nun folgten noch viele Verhaltensmassregeln, über Aufstehen und Zubettgehen, über Hereintreten und Hinausgehen, über Ordnunghalten, Türenschliessen, und über allem fielen Heidi die Augen zu, denn …
Richtig, es interessiert uns einfach ungeheuer, wer zuerst sein Glas erheben muss, wie man gezielt einen Elfmeter daneben, an die Latte oder dem Torwart, der eben richtig Goalie heisst, oder noch genauer, dem man eben richtig Goalie sagt … in die Arme schiesst; denn da schlafen wir schon längst.
Der bei den Schweizern so beliebte Paul Bilton stellt in seinem jüngst wieder neu aufgelegtem „The Xenophobe’s guide to the Swiss“ (extra in Englisch erschienen, damit es hier erstens keiner kauft, zweitens keiner liest und drittens keiner versteht) fest, dass die Schweizer für sämtliche Missstände beliebte Sündenböcke verantwortlich machen:
„Mit wissendem Blick wird unterstellt, dass die Schuldigen keine Schweizer sein können …“
(Quelle Bild siehe 20min.ch)
Die Rottenmeier fährt Jungfer Dete an:
„Wie konnten Sie mir dieses Wesen zuführen. Jungfer Dete, so haben wir das aber nicht vereinbart.“
Dabei informiert uns Frau Spyri schonungslos:
Sie wusste nicht, was nun zu tun sei, um ihren Schritt rückgängig zu machen, denn sie selbst hatte die ganze Sache angestiftet … Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann nach Paris geschrieben, seine Tochter wünsche sich schon so lange eine Gespielin …Eigentlich war die Sache auch für Fräulein Rottenmeier selbst sehr wünschenswert, denn sie wollte gern, dass jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara abnehme …sie hatte die Oberaufsicht über das gesamte Dienstpersonal…
Und selbst in dieser Situation kann sie die Verantwortung nicht übernehmen und für einmal „Klartext reden“. Nein, der Privatlehrer der beiden Kinder der Herr Kandidat soll es richten und soll dem Herrn Sesemann erklären, dass die beiden Mädels nicht zusammen unterrichtet werden können.
Wir kennen sie zu gut: Die Bescheidenheit. Das „Understatement“. Und so schreibt Klara vor der geplanten Reise in die Berge an ihre deutsche Freundin Heidi, die so gerne den direkten Ausdruck wählt:
Aber denk, Fräulein Rottenmeier will nicht mit… sie dankt immer furchtbar höflich und sagt, sie wolle nicht unbescheiden sein.
Klar, Fräulein Rottenmeier fährt nicht gerne ins Ausland. Aber dann kommt es doch so irre, dass man diese Stelle immer wieder lesen möchte. Die Gouvernante ist furchtbar höflich, eben sie so höflich, dass es schon wieder furchtbar ist, eben nicht freundlich und schon gar nicht herzlich und sie möchte vor allem nicht unbescheiden sein. Und das Beste: Das ist nur Theater. Wäre Frau Rottenmeier eine Deutsche, dann würde sie sagen: Sebastian ich krieg noch ein Bier und ich fahr nicht mit. Macht sie aber nicht.
Wer will kann jetzt das Büchlein selber durchforsten, kann die richtig unangenehmen Themen auf „Rottenmeier Qualität“ prüfen:
Habe ich dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun versuchst Du’s doch wieder. Du siehst aus wie eine Landstreicherin.
Ahnt Johanna Spyri, was sich da in Zukunft ereignen könnte. Kinder der Landstrasse. Die Vergangenheit steht meistens ewig still. Liegt ja auch schon alles weit zurück, so bis in die Steinzeit.
Im III. Teil wollen wir dann sehen, wie es auf der Alm weitergeht, wenn dann all die anderen Deutschen zu Besuch kommen. Ja, die Deutschen aus Frankfurt und wir werden hoffentlich sehen, wie gern sie die Dörfler haben.
September 19th, 2008 at 9:25
Noch bin ich am Kommentieren meines Lieblingsthemas ein wenig gehindert:
1. Die Heidiausgabe, die ich schon vor 10 Tagen bei Amazon bestellt habe, hängt anscheinend noch beim Zoll fest. Vielleicht weilt einer der Zöllner unter den Bloggern, so dass es auch noch eine Weile dauern kann, denn er muss es ja erst lesen.
2. Der Herr Administrator stellt fiese Matheaufgaben als Hürde vorab. Als die arme Heidi nach Frankfurt kam, konnte sie noch nicht rechnen.
Ich gehe davon aus, dass Frau Spyri in den Ortsbeschreibungen ganz feist gelogen hat. Fräulein Rottenmeier ist eine waschechte Zürcherin, die sich mit der vermeintlichen Alpenmentalität des unschuldingen Gastkindes mehr als nur schwertut.
Das Haus Seesemann steht nicht in Frankfurt, sondern an der Goldküste.
Heidi hingegen ist eine fröhliche Rheinländerin, vermutlich aus Köln. Sie liebt den Karneval und tanzt den ganzen Tag.
Klara lebt auf, als sie das erste Mal nach Köln darf. Fräulein Rottenmeier wird mit Kamellen beworfen und steht kurz vor dem Zusammenbruch. Die Rheinländische Fröhlichkeit erweckt die lahme Klara zum Gehen.
September 19th, 2008 at 9:33
Aber aber, lieber Neuromat. Diese komischen Berge, die da so rumliegen heissen ALPEN und nicht Almen. Drum heisst die ALP in der Schweiz immer ALP und nie Alm. Ich freu mich auf die Einladung in Freiburg.
September 21st, 2008 at 21:00
Die Darstellung von Frauenfiguren in Kinderbuchklassikern wäre ein Blog wert. Wenn ich mir Fräulein Rottenmeier so anschaue, fühle ich mich immer wieder an Lindgrens Brusseliese erinnert. Bin gerade dabei, die Textstelle zu suchen.