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Juckt es oder kratzt es? — Es beisst

  • Unterschiedliche Wahrnehmung eines Gefühls
  • In einer berühmten Szene von Molières genialer Komödie „Der eingebildet Kranke“ (= Le Malade imaginaire) fragt der behandelnde Arzt den Patienten: „ça vous gratouille ou ça vous chatouille?“, auf Deutsch „Juckt es? Oder kratzt es mehr?“ In der Schweiz würde ein so Befragter die Antwort nicht geben können, denn in der Schweiz juckt oder kratzt es nicht, hier „beisst“ es. „Es biist“ wie ein Biest.

    Es biist
    Es biist mi!
    (Quelle Foto: buelenhof.ch)

    Das beissende Biest ist in der Schweiz, speziell in Zürich präsenter als der Juckreiz oder das Kratzbedürfnis. So fanden wir in einem hübschen Mundartsong die Strophe:

    Doch öppis juckt und biist in mir
    ich finde keini Rueh.
    Sünneli winkt mir truurig zu
    den was mir fählt bist Du.
    (Quelle: fujara.ch)

  • Die Unterschiede bei der Schmerzbeschreibung
  • Ein befreundeter deutscher Arzt, der in der Schweiz arbeitet, erzählte uns einmal, wie schwierig die unterschiedliche Begrifflichkeit in der Medizin sein kann, wenn es darum geht, dass ein Patient die Art seiner Schmerzen beschreiben soll. Jede Sprachregion hat eigene Ausdrücke. In Deutschland ist ein Schmerz „stechend“ oder „pochend“, in der Schweiz kann er ebenfalls beissen, jedenfalls im Schweizerdeutschen, nebst etlicher weiterer Ausdrücke. Soll nicht heissen, dass man „beissen“ in Deutschland nicht auch sagen könnte, die Bedeutung ist aber anders.

  • Kratzen beim Smalltalk
  • Die Eingangsfrage „Juckt es oder kratzt es mehr?“ ist seit Molière in Frankreich ein Synonym für ein typisches medizinisches Anamnese-Gespräch. Die Frage „ça vous gratouille ou ça vous chatouille?“ sollte man sich also merken, als freundliche Eröffnung eines Small Talks in der Westschweiz oder in Frankreich, wenn ihr Gegenüber sehr leidend dreinschaut. Die richtige Antwort in der Schweiz muss aber heissen: „Es beisst“.

    

    16 Responses to “Juckt es oder kratzt es? — Es beisst”

    1. Peach Says:

      Das französische Sprichwort war mir bekannt, aber so genau darüber nachgedacht habe ich noch gar nie. Jedenfalls fängt es bei mir jetzt grad auch an zu beisssen, ganz fürchterlich sogar 😉

    2. Phipu Says:

      Dieser Beitrag erinnert mich daran, dass ich auch schon mal länger überlegen musste, als ich auf Hochdeutsch über ein „Beissen“ berichten wollte, bis mir endlich das richtig deutsche Wort „Juckreiz“ einfiel. Das war wieder so ein klassischer Fall der „Schere im Kopf“: man weiss zwar, dass das Wort zu ersetzen ist, aber der verlangte Lückenfüller kommt einem nicht in den Sinn.
      Siehe dazu: http://www.blogwiese.ch/archives/576

    3. Guggeere Says:

      Um alle Klarheiten zu beseitigen: Das Verb jucken gibts in den Deutschschweizer Dialekten auch, aber es bedeutet etwas ganz anderes, nämlich springen, hüpfen. Wobei springen auf Hochalemannisch ebenfalls existiert und wieder etwas anderes bedeutet: rennen bzw – wie man in Deutschland hört/liest – laufen. Letzteres wiederum wird in der Schweiz mit geringerer Geschwindigkeit ausgeführt (damit wären wir wieder mal bei einem populären Klischee), bedeutet also gehen. Das immerhin ist auf Hoch- wie auf Schweizerdeutsch dasselbe.

    4. Simone Says:

      Im Deutschen ist „beissen“ eher „brennen“, so wie bei Brennnesseln.

    5. spielmaus Says:

      Mi juckts jetzt au ebbes drzu d’saga. Mei Frau kommt grad hoim ond moint, se häb den Pullover jetzt doch net kauft, er beisst z’arg. Auf Hochdeutsch: Mich reizt es jetzt auch etwas dazu zu sagen. Meine Frau kommt eben nach Hause und meint, sie habe den Pullover jetzt doch nicht gekauft, er verursache ihr einen zu grossen Juckreiz.

      [Anmerkung Admin: „Der kratzt zu dolle“ würde ich eher sagen 🙂 ]

    6. AnFra Says:

      Die bilinguale Anamnese
      oder
      Ist die Amnesie besser

      Beim Schweizers Anamnese fragt der Arzt,
      obs ihm heftig jucket oder es ihm starke kratzt,

      der Patient, der stockt und schüttelt seinen Kopf,
      und denkt, was macht hier dieser deutsche Tropf,

      dieser Arzt, der nicht viele Schweizerworte kennt,
      stellt die unverständlich Frage, ob es den arge brennt,
      der Patient verneint, da man die falschen Worte nennt,

      weiter fragt der Doktor, tuts stechen oder pochen,
      antwortet der Patient, der am Boden angekrochen,
      denn der Schmerz, der hat ihn schon arg gebrochen,

      lieber Herr, nicht mit Ihnen will ich mich werweissen,
      denn mich plagt es heftig, und es tut mich arge beissen,

      die Quintessens dieser deutsch-schweizer Geschichte ist,
      lach als Dütscher nie, wenn den Schwyzer beisst ein Biest.

    7. Lupino Says:

      @ Simone

      Mein Mann (er ist aus dem Schwabenland) sagt auch ‚es beisst‘ wenn etwas juckt. In Bayern habe ich es auch gehört

    8. spielmaus Says:

      Wird „chatouiller“ nicht mit einem „t“ geschrieben? Aber vielleicht liege ich falsch und es hat was mit Altfranzösich zu tun. Ich würde es eher mit „kitzeln“ übersetzen.

      [Anmerkung Admin: Merci für den Hinweis. Tausendmal gelesen und dann doch ein „t“ zu viel geschrieben. Kann passieren. Schon korrigiert]

    9. öni Says:

      Jaja, die Mediziner… als ich letztens mit akuter Blinddarmentzündung am Boden lag, fragte mich der hinzugerufene Notfallmensch, wie stark der Schmerz auf einer Skala von eins bis zehn sei… Ich war allerdings nicht mehr in der Lage, ihn zu bitten, mir doch bitte einen Referenzschmerz zuzufügen. (Wobei das wohl keine typisch Schweizer Anamnesefrage war)
      Beim ersten Aufstehen nach der OP fragte dann die Schwester immerzu, ob ich Sturm hätte. Ich kannte bisher nur die Frage deutscher Krankenschwestern, ob ich denn schon Winde gehabt hätte. Allerdings stellte sich die Sturmfrage dann nicht als Frage nach besonders heftigen Blähungen, sondern nach den bunten Farbwirbeln vor meinen Augen heraus.

      Zurück zum Hauptthema: wo ich herkomme juckt es nicht, es krabbelt. Besonders schlimm krabbeln dabei Mückenstiche und das ohne sich zu bewegen.

    10. neuromat Says:

      die Sache ist doch ganz einfach. Wenn ich eine Brennnessel anlange, dann brennt es. Wenn mir der Arzt ein Medikament gibt, von dem ich Hautausschlag bekomme, dann kann das jucken, Sandflöhe, die jucken auch, zu trockene Haut ebenfalls. Das nennen wir dann Juckreiz.

      Und nicht Beissreiz. Auch nicht Beizreis. Beizreis ist Schweizerdeutsch für einen Zug durch die Gemeinde machen. Aber es geht ja um Beissreiz. Das wäre vielleicht, wenn so ein vergreissender Alt-Achtundsechziger in der sonnigen Grossstadt im Café am Strassenrand hockt und den jungen Dingern hinterherstarrt. Ihn plötzlich der Beissreiz packt und er mit den Worten ‚heute könnte ich mich wieder sinnlos verschenken‘ einer zwanzigjährigen seine Kukident gestärkte Teilprothese in die Wade zimmert. (das wäre mal ein Werbespot – damit sie auch morgen noch kraftvoll und so weiter)

      Aber die Zwanzigjährige hat die jetzt einen Beissreiz. Nein, die auch nicht. Die hat ne Bisswunde. Man muss Euch heute alles erklären. Wann beisst es also?

      Das kommt in der Grosstadt so gut wie nicht vor. In den letzten Monaten war ich in mehreren deutschen Grossstädten. Man kann nicht mehr in Hamburg zum Hafen gehen, in Düsseldorf auf der Kö flanieren und in Berlin sowieso nicht, ohne dass man irgendwoher Schweizerdeutsch hört. Ja, man fühlt sich richtig fremd. Aber das nur für einige per se weltfremde (na, wird die Bedeutung des Wortes klar?) Zuercher am Rande, die ähnliche Wahrnehmungen in ihrem Städtchen haben.

      Es beisst, wuerde ich mal sagen, wenn einem Ameisen auf die nackten Beine schiffen. Typische Kindheitserfahrung. Dann mit der Brennnessel drüber streichen, damit es brennt und wenn es nach 20 Minuten (eine Schweizer Heimfahrt) juckt, dann: drüberschiffen (Jungs sind im Vorteil).

    11. Anita Says:

      Manchen sticht der Hafer und andere juckt das Fell, wenn sie übermütig oder hochmütig werden. Aber Achtung.Hochmut kommt vor dem Fall

    12. Phipu Says:

      An Öni

      Zuerst mal die Grundfragen: Geschah das in der Schweiz? Sprach das medizinische Personal Schweizerdeutsch? Dann war die Frage vermutlich etwas anders formuliert: (hochdeutsch verschriftet) „Ist Ihnen sturm?“. Das würde in Schweizer Dialekten bedeuten: „Ist Ihnen schwindlig?“. Wenn mir das untergekommen wäre, hätte ich darauf geantwortet.

    13. solanna Says:

      Ein wollenes Kleidungsstück kratzt nicht, sondern beisst. Unterscheidung: Man muss kratzen.

      Allerdings gibt es ab und zu Kleidungsstücke mit Wäscheetiketten aus einem bestimmten, eher harten Textilkunsstoff oder aber angenäht mit synthetischen Faden. Beides kann ungemein kratzen. Reaktion darauf: Reiben (oder noch besser, Etikette abtrennen).

    14. lis Says:

      Die feinen Unterschiede zwischen beissen, kratzen, jucken, sind typisch alemannisch. Und da alemannische Dialekte nicht nur diesseits der Schweizer Grenze gesprochen werden, „beisst’s“ eben auch im badischen. Im alemannischen Gebiet Deutschlands müssen Ärzte sich übrigens gut überlegen, wo’s jemanden „beisst“, wenn der sagt „am Fuss“. Der reicht dort nämlich bis zu den Hüften. Legendär ist jener Ausspruch eines Fussballers des VfB Stuttgart, der nach einem Spiel sagte, sein linker Fuss habe geschmerzt „vor allem am Knie“.

    15. AnFra Says:

      Beissende Schweizerbiester:

      http://www.blick.ch/news/schweiz/china-sofas-beissen-auch-schweizer-100705

    16. Luca Says:

      Eben habe ich einen Artikel im 20 Min gelesen: Fachleute besorgt, die Deutschen gefährden die Mundart. Ja genau, üseri Mundart wird vo dem böse Dütsche völlig vermiest oder was. Mir fehlen zu solch einem Bericht echt die Worte. Haben wir keine ernsteren Probleme in unserem Land, dass man so ein „Schiisdreck“ publizieren muss?