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Kein Wahlrecht ohne Schweizerpass — Sind Staat und Kirche nicht getrennt in der Schweiz?

  • Tagesordnungspunkte und Traktanden
  • Vor einiger Zeit wurden wir von der Reformierten Kirche in unserer Wahlheimat Bülach im Zürcher Unterland eingeladen, uns an einer Abstimmung der Gemeinde zu verschiedenen Tagesordnungspunkten, die hier „Traktanden“ genannt werden, zu beteiligen. Als ich uns hier anmeldete und bei der Frage nach der Konfession „ev.“ in das Formular eintrugen, wurden ich automatisch Mitglied der Reformierten Kirche. Seitdem bekommen wir regelmässig einen Gemeindebrief zugeschickt und bezahlen Kirchensteuern. Nicht viel anders als in Deutschland, wo es wesentlich komplizierter ist, eine Kirche zu verlassen als seinen Eintritt zu bekunden.
    Kirche in Bülach

    Der Eintrag „ev.“ auf dem Anmeldebogen des „Einwohnermeldeamtes“, welches in der Schweiz „Einwohnerkontrolle“ heisst, reicht aus. Doch es gibt einen gewichtigen Unterschied. Als Deutscher in der Schweiz darf ich zwar die Kirchensteuer bezahlen, habe aber kein aktives oder passives Wahlrecht in der Gemeinde. Ich wollte wissen, ob das in der Evangelischen Kirche in Deutschland anders ist und erhielt diese Auskunft per Mail:

    In Deutschland sind Staat und Kirche seit 1919 organisatorisch getrennt, so dass z. B. die Frage der Kirchenmitgliedschaft von staatlicher Regelung unabhängig ist. Eine Ausnahme ist der Austritt aus der Kirche, der in staatlichen Gesetzen insofern geregelt ist, als er für die Zahlung der Kirchensteuer relevant ist. Für das Wahlrecht zu kirchlichen Organen wie dem Presbyterium liegt die Regelungsbefugnis jedoch ausschließlich bei den Kirchen. Ein Schweizer, der nach Deutschland zieht und hier seinen ständigen Wohnsitz oder „dauernden Aufenthalt„, also seinen Lebensmittelpunkt hat, und sich als evangelisch anmeldet, kann in der Kirchengemeinde das aktive und passive Wahlrecht wie ein deutscher Staatsangehöriger wahrnehmen.
    (Quelle: E-Mail der Kirchenrätin Dr. Anne-Ruth Wellert, EKD, Hannover)

    Sollte das etwa ein Bereich sein, in dem in der „Institution Kirche“ in Deutschland mehr Basisdemokratie möglich ist als in der Schweiz?

  • Was dürfen die ausländischen Seelsorger in einer Schweizer Pfarrei?
  • Eine Deutsche, die in einer katholischen Gemeinde im Kanton Zürich arbeitet, schrieb mir über die Situation in der Schweiz:

    Es kommt nicht selten vor, dass die Mehrheit der Seelsorger einer Pfarrei aus dem Ausland kommen. Selbstverständlich dürfen sie nicht abstimmen. Das führt zur m. E. bedenklichen Situation, dass häufig Pfarrer, Vikare, PastoralassistentInnen, Sozialseelsorger-Innen, Jugendarbeiter-Innen zwar die Arbeit tun – aber wenn es um Mitsprache auf Kirchgemeinden-Ebene geht, haben sie nichts zu sagen. Mir selbst (weiblich, katholisch, promovierte Theologin, 50) macht dies nichts mehr aus – im Lauf der Jahre habe ich mich daran gewöhnt, welchen Stellenwert ein seltsames Tier wie ich in diesen Zusammenhängen zu haben pflegt. Doch es freut mich immerhin noch, wenn das eine oder andere auch anderen noch auffällt. –

    Sie war durch einen Beitrag auf NZZ.Votum auf die Blogwiese gestossen.

  • Fortschrittliche Westschweiz
  • Natürlich ist das mit dem aktiven und passiven Wahlrecht in den Schweizer Kirchen nicht überall gleich geregelt. Der Kanton Neuenburg soll in dieser Hinsicht besonders fortschrittlich agieren. Dort wohnende Ausländer haben das aktive und passive Wahlrecht in den Kirchengemeinden. An einer für alle Kirchen der Schweiz gültigen Neuregelung wird gearbeitet, sie wurde für 2010 in Aussicht gestellt. Ausserdem soll es bei den Katholiken schon Priester aus Deutschland geben, die in ein Kirchenamt gewählt wurden, ohne den Schweizerpass zu besitzen. Es gab einfach keine anderen Kandidaten.

    

    16 Responses to “Kein Wahlrecht ohne Schweizerpass — Sind Staat und Kirche nicht getrennt in der Schweiz?”

    1. stella Says:

      Das ist tatsächlich kantonal – echt schweizerisch – unterschiedlich geregelt. Ich bin stolz, dass meine Tessiner evang.-ref. Kantonalkirche CERT das Stimm- und Wahlrecht auch für AusländerInnen kennt. Allerdings gilt dies nicht für die kath. Kirche. Der Kanton Tessin wollte uns bei der Anerkennung der Kantonalkirche dieses Recht, das schon lange besteht, zwar nehmen, worauf wir uns aber mit Erfolg wehrten. Sie sehen, es gibt keine gesamtschweizerische Regelung.

    2. Diuk Says:

      Es gab im Kanton Zürich vor nicht allzu langer Zeit eine Abstimmung, bei der es unter anderem genau darum ging, die jedoch nach einer unsäglichen SVP-Kampagne („Koranschulen NEIN“) abgelehnt wurden.
      Das ist halt der Nachteil der direkten Demokratie, da macht manches noch eine Zusatzschlaufe (oder -schleife?).

    3. Brun(o)egg Says:

      Gute Frage Herr Wiese. Sie ist zwar getrennt, aber doch wieder nicht, wie der Fall Szabo im BL gezeigt hat, bei dem durch ein Gericht arbeitsrechtliche Verstösse durch das Bistum Basel / Solothurn zu einem Urteil zugunsten des Priesters gefällt wurde.
      Der katholischen Kirche gefällt das „Schweizer Modell“ gar nicht. Könnte es doch sein, das Leute die an kleinen Kindern rummachen eines schönen Tages auch strafrechtlich vor Gericht gestellt werden.

    4. Marroni Says:

      Das Ist tatsächlich von Kanton zu Kanton verschieden, es gibt dann auch noch Kantone, die das an die Gemeinden delegieren, und zu guter letzt, sogar noch Gemeinden, bei denen ( jetzt als Beispiel), die Katholen aktives und passives Stimm und Wahlrecht haben, aber die Reformierten nicht. Besonders Exotisch, es gibt dann noch Gemeinden, in denen Ausländer beispielsweise ein Stimm, aber kein Wahlrecht, oder aber nur ein passives Wahlrecht haben. Logischerweise NUR in Kirchlichen angelegenheiten. Hier feiert der Kantönligeist echte Urstände.

    5. Neuromat Says:

      Aktuelle politische Ereignisse – alle wissen, wovon gesprochen wird – lassen natürlich wieder einmal berechtigte Zweifel an unseren Fähigkeiten aufkommen, auch sinnvoll in einer direkten Demokratie mitzuwirken.

      Gemessen werden wir eben an dem überernährten Pfälzer Hamster und seiner Chefin Etepetete, die vor ihrer Entdeckung als Bundeskanzlerin jahrelang für das Fernsehen die Breitmaulfroschsynchronisationspassagen übernahm, in denen jener sich verleugnete: „Nöin, nöin“.

      Müssig zu sagen, das nicht alle so sind und benachbarte Staaten gleich als Raubritter verunglimpfen, während man selber gestohlene und somit unrechtmässig an sich gebrachte Ware für einen horrenden Preis erworben hat. Aber wie hat Etepetete gesagt, die Zeit drängt, denn die Liste der deutschen Steuerverschwender ist lang. Da wüsste ich auch nicht, ob ich „söttigen Höseler“ ein Stimmrecht abtreten würde.

      Sicherlich ist das wieder etwas anderes bei der Situation von Seelsorgern. Das finde ich auch wieder ungewöhnlich. Denn ein Stimmrecht in zum Beispiel Gremien oder ähnlichen institutionell verankerten Organisationen ist auch in der Schweiz für jeden Ausländer, der dort eine entsprechende Mitgliedschaft oder Funktion hat gegeben.

    6. Simone Says:

      Es soll auch Leute geben, die in Deutschland Mitglied einer der beiden grossen Kirchen sind und das in der Schweiz nicht angeben, um so die hiesige Kirchensteuer zu sparen. Allerdings glaube nicht nicht, dass ein solches Verhalten daraus resultiert, dass Ausländer in der Schweiz nicht den Kirchenvorstand wählen dürfen. Es geht wohl eher um monetäre Interessen.

    7. Georges Says:

      – jeder Kanton kann selbst bestimmern, ob er Staatskirchen will. Die meisten Kantone haben 3 Staatskirchen: reformierte, katholische und christkatholische

      – Im Kanton Zürich sind die Pfarrer Staatsangestellte, in St. Gallen sind es zwar auch Staatskrichen, die Pfarrer sind aber nicht Staatsangestellte.

      – In Neuenburg gibt es keine Staatskirche, daher gibt es auch keine Kirchensteuer. Die Kirche ist daher viel ärmer dran als in anderen Kantonen.

      – Wenn eine Kirche nicht Staatskirche ist, dann kann sie selber bestimmen, ob Ausländer ein Stimmrecht haben.

      – In denjenigen Kantonen mit Staatskirche kann der Kanton bestimmen, ob Ausländer in Kirche und/oder den politischen Gemeinden das Stimmrecht haben.

      – Wenn eine Kirche Staatskirche ist, dann muss sie sich an diverse staatliche Vorschriften halten (siehe Fall Szabo). Das passt Bischof Koch natürlich nicht. Ich habe aber noch nie gehört, dass Bischof Koch deshalb nicht mehr Staatskirche sein möchte. Dann müsste er nämlich auch auf die Kirchensteuer verzichten.

    8. Beat Says:

      Dass demokratische Rechte unabhängig von der Staatsbürgerschaft gewährt werden, wird in langfristigen Betrachtungen unumgänglich. Die zunehmende Mobilität in allen Ländern führt sonst zu einer Situation, die in manchen Regionen die Mehrheit von demokratischer Mitbestimmung ausschliesst und somit das Gemeinwesen nicht mehr in angemessener Weise organisiert werden kann. Die Schweiz ist in einigen Gemeinden nicht mehr weit von solchen Zuständen entfernt. Daher bin ich recht zuversichtlich, dass sie bei der Einführung von demokratischer Mitbestimmung für Nicht-Schweizer nicht wieder – wie beim Frauenwahlrecht – zu den Letzten gehört. In einer historischen Betrachtung wird sich diese Staatsbürgerorientierung der Demokratie eh als Irrtum herausstellen.

    9. Albi Says:

      Wieso sollen die Pfärrer, Vikare etc. bei einer Kirchgemeindeversammlung überhaupt ein Wahlrecht haben? Prinzipiell müsste dies auch den jeweiligen Schweizer Versionen entzogen werden, denn auch wenn viele Pfaffen das inzwischen vergessen und sich für unfehlbar wie der Papst halten (absurderweise auch in der reformierten Version) sind und bleiben sie Angestellte der Kirchgemeinde und könnten ja sonst bei aktivem Wahlrecht über sich selbst entscheiden… Bei passivem Wahlrecht wäre sogar noch absurder, denn dann könnten sie ja zu ihren eigenen Aufsichtsorganen und Vorgesetzten werden. Zu was das führt, siehe Ospel, Vasella etc.

    10. balzercomp Says:

      @Albi
      Ich verstehe Dich wohl falsch. Ist der Pfarrer teil der Gemeinde, oder nicht? Mit welchem Recht willst Du ihm oder ihr das aktive Wahl- und Stimmrecht entziehen? Genauso gut müsstest Du dann allen Kandidaten in jeder Wahl das Stimmrecht entziehen. Da in der Schweiz ja grundsätzlich jeder Schweizer wählbar ist, dürfte niemand mehr über Personen abstimmen. Das löst das Problem mit Politikunzufriedenheit von alleine. Wenn niemand abstimmen darf, wird auch Niemand gewählt.

      Ich bin mir nicht sicher welche Rechtsform die Kirchen in der Schweiz haben. In Deutschland sind sie eine Sonderform von Vereinen. Einem Vereinsmitglied das Stimmrecht zu verweigern oder zu entziehen ist alles andere als einfach.

    11. Ingo Says:

      @Beat:
      Der Idealist in mir ist geneigt, Deinen schönen letzten Satz leicht abzuwandeln: „In einer historischen Betrachtung wird sich die Staatsbürgerorientierung an sich eh als Irrtum herausstellen.“

      Ich weiss… Aber man wird ja noch träumen dürfen…

      PS: Tatsächlich befürchte ich, dass die Schweiz schon bei dieser Problematik tatsächlich mal wieder zu den letzten gehören wird. Wahrscheinlich erst, wenn sie der EU beitritt – da ist das Ausländerwahlrecht auch Kommunalebene meines Wissens obligatorisch. Zumindest für EU-Bürger, was natürlich auch halbherzig wäre – aber man müsste das mal recherchieren…

    12. viking Says:

      @balzercomp
      Pfarrer (und andere Kirchgemeindeangestellte) sind in der Gemeinde angestellt und haben nach meinem Verständnis rein durch ihre Anstellung kein Stimmrecht bei Gemeindeabstimmungen. Wohnen sie in der Kirchgemeinde, was bei Pfarrern oft durch die Pfarrwohnung gegeben ist (bei anderen Angestellten aber nicht zwangsläufig so ist), dann sind sie auch Kirchgemeindemitglieder und haben durch diesen Status Stimm- und Wahlrecht (sofern sie die Vorschriften des jeweiligen Kantons zum aktiven und/oder passiven Stimm- und Wahlrecht erfüllen).

    13. neuromat Says:

      Die Diskussion zwischen albi, balzercomp und viking wirft interessante Fragen auf:

      Bestimmt sich die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde ausschliesslcih durch den Wohnort und kann somit eine Pfarrerin Mitglied einer Gemeinde sein und Pfarrerin einer anderen und welches ist dann „ihre“ Gemeinde. So geht denn die Kritik von Viking an balzercomp auch vorbei, der einen sehr interessanten Aspekt an albis Ausführungen erwähnt.

      Da könnte man noch weiter gehen, betreffend das „über sich selbst entscheiden“:

      Der Gedanke ist verlockend, wohl alle IV-Angestellten, für die IV-sonstwie Tätigen, alle IV-Bezüger und ihre Angehörigen von der nächsten Abstimmung ueber die VI. Revision auszuschliessen. Abstimmungen, die zum Beispiel Verfassungsänderungen oder einschneidende Gesetzesänderungen entscheiden, beträfen dann jeden Schweizer.

      Dann müssten wir Deutsche wohl an die Urnen – so bekommt das Wort Wahlschweizer endlich auch einen Sinn.

    14. balzercomp Says:

      @viking
      Das ist der Unterschied zwischen der reformierten Kirche schweizer Prägung und der evangelischen Kirche deutscher Prägung. In Deutschland sind die Pfarrer Angestellte der Kirche, die sie in die Gemeinden „abordnet“. In der Regel ist der Pfarrer auch, von Amts wegen, Vorsitzender des Kirchenvorstandes „seiner“ Gemeinde. All‘ das bedeutet nicht, dass eine Gemeinde jeden ihr vorgesetzten Pfarren akzeptieren muss, aber die Vorstellung, dass ein Pfarrer lediglich Dienstleister einer Gemeinde ist, ohne zugleich Mitglied dieser Gemeinde zu sein, ist für mich nur sehr schwer vorstellbar.

    15. viking Says:

      @balzercomp
      Ja, das ist der Unterschied. Ausserdem hast du hier auch schon mal mehrere gleichberechtigte Pfarrer in einer Gemeinde. Ist ja auch kein Problem, da eben „nur“ Angestellte. Aber das Problem mit „lediglich“ Dienstleister zeigt sich m.E. ja auch im Verständnis von Beamten in CH und D (und der (Nicht-)Möglichkeit, diesen Status abzuschaffen.). Das Problem mit dem Dienstleister sehe ich gar nicht. Die Gemeinde wird durch den gewählten Kirchenpflegevorstand geführt. Der eingestellte Pfarrer bringt als Angestellter genauso seine Dienstleistungen, wie der Sozialarbeiter und der Sigrist. Und wenn er nicht die erforderliche Leistung erbringt bzw. nicht mehr in die „Politik“ der Kirchenpflege passt, wird die Zusammenarbeit aufgelöst (was relativ schnell zu „Strömungswechseln“ in einer Gemeinde führen kann). That’s life.. (zumindest in der CH).

    16. Katharina K. Says:

      Ich freue mich immer wieder über Artikel auf diesem Blog. Und auch hier konnten wieder sehr viele Informationen gewonnen werden. Vielen Dank und weiter so.

      LG, Kathi