Du sollst nicht abschreiben — Was die Müllabfuhr im Zürcher Gemeinderat zu suchen hat
Wir lasen im Tages-Anzeiger, dem Mitteilungsblatt für Schweizerdeutsche Politiksprache, vom 18.01.07 auf Seite 14:
Damit die Traktandenliste des Zürcher Gemeinderates schrumpft, werden künftig alte Interpellationen automatisch abgeschrieben. Behinderung der SVP, meint die SVP.
Von Anfang an übte die Schweizer Politiksprache ein besondere Faszination auf uns aus. Hier fahren nicht „Traktoren“ durch den Gemeinderat, sondern hier wird „traktandiert“, d. h. gezerrt und gezogen an einer Sache, was das Zeug hält und die „Traktandenliste“ hergibt. Nur zugezogene Neuschweizer würden eine „Tagesordnung“ erwarten mit ihren „Topics“ oder „TOPs“ = Tages-Ordnungs-Punkten, wie die deutsche Politikerklasse so etwas lieber nennt.
Dort in Zürich werden „Interpellationen automatisch abgeschrieben“. Ja haben die denn keine „copy & paste“ Funktion in ihrer Textverarbeitung? Müssen die echt alles von Hand „abschreiben“ und wie geht das automatisch? Uns wurde dies in der Schule streng verboten. Abschreiben hiess, sich die Leistungen des Nachbars unerlaubt anzueignen und wurde streng bestraft. Aber natürlich ist hier nicht diese Bedeutung gemeint. Unser Duden erklärt:
abschreiben st. v.; hat
1. a) (von etw., was schriftlich od. gedruckt vorliegt) eine Abschrift machen: [sich] eine Stelle aus einem Buch a.; b) etw. [was im Konzept vorliegt] ins Reine schreiben; noch einmal schreiben: das Ganze noch einmal sauber a.; c) (bes. in der Schule) [unerlaubt] von jmds. Vorlage schreibend übernehmen: von einem Mitschüler a.; diese Stelle hat er wörtlich aus dem Buch eines Kollegen abgeschrieben.
2. (Wirtsch.) a) (einen Gegenstand des bewertbaren Anlagevermögens) wegen Abnutzung im bilanzmäßigen Wert herabsetzen: Maschinen a.; b) (einen Betrag) streichen, abziehen: ich habe den Betrag [von ihrer Rechnung] abgeschrieben.
(Quelle Duden.de)
Auch nach mehreren Jahren in der Wirtschaft hatte ich Mühe zu verstehen, wie man dort Verluste einfach „abschreiben“ kann, und schon sind sie weg. Und so ganz ist mir auch nicht klar, wie die das jetzt im Zürcher Gemeinderat machen. Eine „Interpellation“ ist doch keine Schuldbetrag, oder?
Eines der vielen Steuerschlupflöcher in Deutschland, das von der alten rot-grünen Bundesregierung gestopft wurde, war die Möglichkeit, die Kosten für einen privaten Wohnraum als Arbeitszimmer „abzuschreiben“, inklusive Putzfrau, Stromrechnung und Büromöbel. Ein Dauerbestseller im Deutschen Buchhandel trägt den Titel: „Der grosse Konz — 1000 ganz legale Steuertricks“. Fachleute halten die permanente Steuerreform in Deutschland erst für beendet, wenn dieses Buch zu „Die 10 bekannten Steuertricks“ unbenannt werden muss weil es keine Schlupflöcher mehr gibt. Weil sich damit auch der Beamtenstand selbst degradieren und funktionslos machen würde, wird das in Deutschland sicher nie passieren.
Auch in die Umgangssprache ist das Wort gewandert:
5. (ugs.) aufgeben, verloren geben; mit jmdm., etwas nicht mehr rechnen: den verlorenen Ring kannst du a.; er ist so krank, dass ihn schon alle abgeschrieben haben. st. v.;
(Quelle Duden)
Aber was passiert nun wirklich im Zürcher Gemeinderat? Wir können es nur vermuten, denn auch die Schweizer in unserer Umgebung wussten nicht so genau, was beim „Abschreiben einer Interpellation“ eigentlich geschieht. Wird das Ding kopiert? Entsorgt? Verworfen? Ist bestimmt wieder so ein super politischer Vorgang, den hier niemand versteht.
In der IT gibt es einen ähnlichen Prozess, bezeichnet als „garbage collection“ = Müllabfuhr. Dabei werden veraltete Objekte, die eine Löschmarkierung bekommen haben, durch automatische Prozeduren (meistens per Script) vernichtet um so wieder Platz zu schaffen für Neues. Die Müllabfuhr kommt und entfernt alles, was veraltet ist. Diese „Löschmarkierung“ heisst auf Englisch „tombstone“ = Grabstein. Wobei Sie beim Aussprechen dieses tückischen Wortes an Laura Craft und „Tomb Raider“ denken sollten, denn das „b“ im „Tomb“ ist nicht zu hören.
So geschieht es nun wohl auch im Zürcher Gemeinderat: Ist ein Tagesordnungspunkt ca. 2 Jahre alt und wurde nie diskutiert, dann verschwindet er automatisch von der Traktandenliste. So jedenfalls haben wird den Tagi-Artikel verstanden. Oder liegen wir da falsch? Unter Politikern wie Kohl oder jetzt Stoiber nannte man diese Strategie „Problemlösung durch Aussitzen“.
Januar 23rd, 2007 at 2:26
Es ist möglich das das „Abschreiben“ vom Englischen „write-off“ (Wörtl. weg-, ab- oder herunter-schreiben) stammt. Das „-off“ betrifft sich auf das entfernen eines eintrags von einer Bilanz (Balance Sheet). Keine ahnung welcher begriff zuerst kam, oder ob meine Rechschreibung stimmt.
Januar 23rd, 2007 at 8:08
oder das: abgeschrieben werden die Einwände einfach auf die Agenda der kommenden Sitzung, die dann wieder sehr voll sein wird und man die entsprechenden Punkte nie wird behandeln müssen.
Oder so
[Anmerkung Admin: Finde ich echt beruhigend, dass zumindestens die Schweizer hier genau wissen, was da eigentlich passiert. ]
Januar 23rd, 2007 at 9:49
Ich glaube das Parlament kann Vorstösse (Interpellationen, Motionen und Postulate) abschreiben, wenn sie ausgeführt sind. Wenn also die Fragen der Interpellation beantwortet sind, auch wenn der Fragesteller oder Interpellant von der Antwort noch nicht befriedigt ist. Wenn der Inhalt einer Motion erfüllt wurde, z.B. nach 10 Jahren Planung gibts endlich die geforderte Bushaltestelle, so wird die Motion abgeschrieben. Das Parlament kann aber, so glaube ich, Vorstösse auch abschreiben, wenn der genaue Inhalt noch nicht umgesetzt ist, aber in anderer Form bereits besteht, oder von andern Vorstössen gefordert wird (etwa zwei Vorstösse, die Ähnliches fordern). Das hängt dann eben davon ab, ob das Parlament den Inhalt als verwirklicht ansieht oder nicht….
Januar 23rd, 2007 at 13:34
Nicht Verluste werden in der Buchhaltung abgeschrieben, sondern Vermögen (z.B. Möbel, Autos, Häuser, Fabriken etc.). Diese Abschreibung ist nichts anderes als einen Teil des Gewinnes wegzunehmen um für die Wiederbeschaffung des Vermögengegenstandes zu sparen. Im Idealfall hat man das Geld für die Wiederbeschaffung zur Verfügung wenn z.B. die Maschine endgültig den Geist aufgibt.
In der Politik kann eine Interpellation nur durch einen entsprechenden Beschluss (Gemeindeversammlung, Parlement etc.) ad acta gelegt werden. Im erwähnten Artikel wird in dieser Gemeinde dies ohne Beschluss erledigt. So ungefähr habe ich das verstanden und in meiner Gemeinde beobachtet.
Januar 23rd, 2007 at 13:43
http://www.parlament.ch/ab/frameset/d/n/4612/56143/d_n_4612_56143_56326.htm
„Wenn Sie bereit sind, das zu erklären, bin ich bereit, die Motion abschreiben zu lassen. “
http://www.bl.ch/docs/parl-lk/protokolle/2003/p2003-06-19/teil_3.htm
„Trotzdem macht Max Ribi zum Abschied ein Geschenk, indem er sich bereit erklärt, die gesamte Motion abschreiben zu lassen.“
Es ist also auch so, dass der Motionär die Motion abschreiben lassen kann, das heisst, sie fällt aus „Abschied und Traktanden“, bezw. sie wird nicht mehr weiter verfolgt.
Januar 23rd, 2007 at 20:03
Bei dem Begriff des „abschreibens“ kann auch wieder ein Phänomen des spasamen Gebrauchs von Begriffen am Wirken sein: Es gibt beispielsweise das „Hirn“, na wunderbar, und das entsprechende Verb „hirnen“. Das ist doch sehr ökonomisch! Warum denn auch noch das Wort „denken“ einführen. — Beim „abschreiben“ könnte es analog so gehen: Wir haben das Verb „schreiben“, na wunderbar! Man kann dann einfach ein wenig ergänzen: „auf“-schreiben, „an“-schreiben. Was machen wir aber, wenn wir auf- und angeschriebenes löschen wollen: Wir schreiben es „ab“; ausgesprochen nicht mit einem hellem „a“, sondern mit einem dunklen „ob“ (ob-schriibe). Und, klar, das weiss jeder nach einem halben Jahr hier: „ab“ bedeutet „weg“; also „weg“-schreiben, das Geschriebene wegmachen, die Buchstaben mit dem Radiergummi nachfahren …. Ist doch cool, oder, diese Sparsamkeit!
April 16th, 2007 at 18:18
@Michael-H: Nein nein, so funktioniert das nicht. Abschreibungen werden schon auf Immobilien, Maschinen und Mobiliar vorgenommen, jedoch wird dabei ein Teil des buchhalterischen Wertes abgezogen (über das Konto „Wertberichtigung“, was den ganzen Vorgang sehr treffend betitelt) um nicht Werte in der Bilanz zu haben, die nicht mehr aktuell sind. Das was Du beschreibst sind Wiederbeschaffungsreserven, die aus dem Gewinn gebildet werden können, damit, wenn denn die Maschinen abgeschrieben sind, genügend Geld vorhanden ist um einen Ersatz anzuschaffen.