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Nach jedem Satz erst eine Sekunde warten — Über die Wahrnehmung von Ironie bei den Schweizern

  • Das Schweizerische Verzögerungsmoment
  • Kennen Sie das auch? Sie erzählen auf Hochdeutsch einem Schweizer eine Geschichte mit einer überraschenden Pointe am Schluss. Der letzte Satz ist verklungen, es vergeht eine Sekunde, dann erfolgt die Reaktion des Schweizer Zuhörers. Es passiert nicht immer, aber regelmässig, je nachdem wie genau ihr Zuhörer Ihnen folgen konnte. Ich nenne dieses Phänomen das „Schweizerische Verzögerungsmoment“, wobei ich damit nicht ausdrücken möchten, dass es mir nicht ganz genauso mit Schweizern ergeht. Neulich beim Einkauf im Coop sagte die Verkäuferin „Frohe Wiihnachte“ und danach dauerte es auch bei mir eine Sekunde, bis der Satz zum Kleinhirn durchgedrungen war und ich den Wunsch passend erwidern konnte. Wie drückten es Ursus&Nadeschkin in der hochdeutschen Fassung ihres Programmes „Hailights“ so schön aus:

    Können Sie uns verstehen? Begreifen Sie es auch?

    Etwas rein akustisch wahrzunehmen und es dann auch noch inhaltlich zu begreifen, können grundverschiedene Dinge sein bei der Kommunikation zwischen Deutschen und Schweizern. Es sind vor allem die feinen Nuancen und ironischen Anspielungen, mit denen beide Sprechergruppen Schwierigkeiten in einer Diskussion mit der anderen Gruppe haben.

  • Wann kommt denn nun das Postauto?
  • Meine erste leibhaftige Schweizerin lernte ich auf einer Trampfahrt durch Frankreich kennen. Wir standen am Strassenrand im Burgund und warteten auf den Überlandbus, denn mit Trampen wollte es nicht recht klappen an jenem heissen Julitag. Da sagte die Schweizerin neben mir mehrfach auf Hochdeutsch in einem quengeligen Ton: „Wann kommt denn nun das Postauto“. (Wahrscheinlich war es eher „Poschtauto“, so genau weiss ich es nicht mehr). Dass es sich beim „Postauto“ nicht um den französischen Briefträger sondern um den Überlandbus handelte, vermutete ich selbst ohne Erklärung. Dennoch konnte ich nicht einordnen, ob sie ironisch mit mir sprach, wirklich ungeduldig auf den Bus wartete oder sich sonst wie einen Spass mit mir erlaubte. Quasi mein erstes Deutsch-Schweizer Missverständnis.

  • Faszination und Wahrheitsvermutung beim Hochdeutschen
  • Bei Vorträgen habe ich später in der Schweiz regelmässig erlebt, welche Wirkung von einer hochdeutschen Rede auf Schweizer ausgeht. Sie ist für die meisten Schweizer zunächst mal grundsätzlich 20% wahrhaftiger und vertrauenswürdiger als eine Rede auf Mundart. Auf Hochdeutsch wird nicht gelogen, Hochdeutsch ist die sachliche Sprache der Nachrichten und Katastrophenmeldungen, darin erlaubt man sich keine ironischen Spässe oder Unwahrheiten! So wie das geschriebene Wort für viele Menschen immer eine höhere Glaubwürdigkeit hat als das gesprochen Wort. „Es stand sogar in der Zeitung“ ist ein Beleg für die Wahrheit einer Begebenheit, auch wenn die Zeitung BILD, BLICK oder Daily Mirror heisst. Was gedruckt wurde, muss einfach wahr sein.

  • Per Laserdrucker immer eine Note besser
  • Zu Beginn meines Studiums wurden Seminararbeiten noch mit der Schreibmaschine verfasst. Dann kamen die ersten PCs und Laserdrucker auf und ein paar Semester lang konnte man bei der Professorenschaft allein dadurch eine bessere Note erzielen, dass man seine Arbeit mit einem Laserdrucker im Blocksatz (nach erfolgter Silbentrennung) und in Times New Roman 12pt abgab. Das sah so hammermässig gut aus, der optische Eindruck der satten Schrift war so überwältigend wahr und positiv, dass manch inhaltliche Schwachstelle damit überbrückt werden konnten.

  • Auf Hochdeutsch wird kein Quatsch erzählt
  • So ähnlich ging es mir bei meinen ersten Schulungen als IT-Trainer auf Hochdeutsch vor Schweizern. Ich hatte oft das Gefühl, den grössten Unsinn erzählen zu können. Nur weil der Unsinn auf Hochdeutsch erzählt wurde, galt er in Schweizer Ohren zunächst als wahr, bevor er hinterfragt wurde. Eine Weile lang baute ich daher einen Test ein, einen kleinen Satz, der absoluten Blödsinn enthielt. Entweder die Zuhörer überhörten ihn, oder sie reagierten mit Verzögerung, dann meistens nicht alle, und schon gar nicht alle gleichzeitig.

  • BCC ist eine Blind Carbon Copy Version in Brailleschrift
  • So erklärte ich in Kursen zum Thema „E-Mail“ immer, dass die Abkürzung „CC:“ von „Carbon Copy“ kommt und eine Kohlepapier-Durchschlagsversion der Mail, also eine Zweitkopie bezeichnet, was auch ganz der Wahrheit entspricht. „BCC:“ hingegen komme von „Blind Carbon Copy“ womit die Version in Brailleschrift gemeint sei. Das klingt zwar logisch, ist aber absoluter Quatsch. Falls keine Reaktion erfolgte bei den Zuhörern wusste ich: Hochdeutsch spricht immer die Wahrheit.

  • Ein englischer Fachvortrag klingt super gescheit
  • Ich beobachte dieses Phänomen an mir selbst, wenn ich einen Fachvortrag auf Englisch höre. Auch hier bin ich so fasziniert von der flüssigen Rede, den vielen „gerund forms“, den geschickt angebrachten Argumenten und perfekt betonten Fremdwörtern, die im Englischen übrigens „hard words“ genannt werden, weil sie niemals „fremd“ sind, dass ich auch über eventuelle Banalitäten und Schwachstellen des Inhalts völlig hinwegsehen bzw. hören kann.

  • Haben Schweizer wirklich Mühe mit hochdeutscher Ironie?
  • Ich wehre mich vehement gegen das häufig angebrachte Vorurteil, die Schweizer hätten Mühe mit Ironie und gebrauchen selbst keine Ironie. Richtig ist, sie haben oft Mühe, die Ironie aus dem hochdeutschen Redefluss eines Deutschen herauszuhören weil sie genug damit beschäftig sind, die Rede an sich zu hören und zu verstehen. Deutsche schliessen aus der Tatsache, dass sie ihrerseits bei den Schweizern keine Ironie hören, fälschlicher Weise darauf, dass diese keine verwenden. Irrtum, denn diesmal wurde die ironische Nuance einfach vom Deutschen nicht verstanden, bzw. nicht begriffen. Anders ausgedrückt: Nur weil Sie als Deutscher bei den Schweizern noch nie Ironie bemerkt haben, heisst das noch lange nicht, dass Schweizer Ironie nicht verwenden, sondern lässt eher darauf schliessen, dass Ihr Schweizerdeutsches Hörverständnis noch nicht bis zu dieser Bedeutungsebene vorgedrungen ist. Denn „Was ich nicht höre, das gibt es nicht“ ist der falsche Ansatz. „Was ich hören kann habe ich deswegen noch lange nicht verstanden“ wäre besser.

  • Geschriebene Ironie muss als solche gekennzeichnet werden
  • Warum Schweizer häufig mit geschriebener Ironie ihre Problem haben hängt mit dem oben beschriebenen „Wahrheitsanspruch“ der Schriftsprache zusammen. Geschrieben wird in den Zeitungen und in Romanen, Schriftsprache hören kann man in einer Nachrichtensendung. All diese Verwendungen sind in der Regel frei von Ironie oder Doppeldeutigkeiten, darum muss bei Glossen oder ironisch gemeinten Texten immer deutlich mit 🙂 Smilies angefügt werden, damit für jeden Leser klar ist, dass es sich hier nicht um Sachtexte handelt. Die Blogwiese ist dafür ein gutes Beispiel.

    Seit ich im September 2005 auf der Blogwiese erklärt habe, dass „es schiesst mich an“ wahrscheinlich vom falsch aufbewahrten Gewehr im Schrank herrührt, welches plötzlich zu ballern beginnt, wurde mir sicherlich schon 20 Mal per Email erklärt, dass ich dieses Wörtchen falsch verstanden habe. Das „invisible Smiley“ im Originalartikel war schlichtweg übersehen worden. Kein Wunder, war ja auch „invisible“.

    

    11 Responses to “Nach jedem Satz erst eine Sekunde warten — Über die Wahrnehmung von Ironie bei den Schweizern”

    1. Thomas Says:

      Gerade weil hier in diesem Blog ja auf sprachliche Nuancen wert gelegt wird, ist das erkennen von Ironie gar nicht simpel. Du schreibst ja oft von sprachlichen Verständnisschwierigkeiten. Woher soll man also nun die Erkenntnis erlangen, ob auch dieses Missverständnis real ist oder nur geflunkert?
      Analog zum BCC- Beispiel: es verwundert mich eigentlich sehr wenig, dass da kaum ne Reaktion kam: wer in einen Kurs geht hat oft keine Ahnung von der Materie und nimmt folglich alles für bare Münze. Er zahlt ja auch dafür. Das merk ich bei mir auch immer: erzähl ich was über mein Fachgebiet, wo die Leute keine/kaum Ahnung haben, kann ich den grössten Stuss einbauen. (Würd ich aber nicht Ironie nennen), und das ganze Publikum sagt nur: ‚Oh, echt, wirklich? Wusst ich nicht‘.

      übrigens ist das smiley um Ironie anzuzeigen ;-), nicht 🙂
      😉

    2. Administrator Says:

      @Thomas
      Recht hast Du, aber es gab auch je nach Publikum oft Zuhörer, die bei dem Statz „Das ist dann die Version in Brailleschrift“ schon verstanden haben, dass sowas eher unwahrscheinlich ist und ich mir hier einen Scherz erlaubte.

      Die fingen dann an zu schmunzeln. War ja auch nur ein Beispiel, oft habe ich krassere Fehler eingebaut, die jedem auffallen sollten, der mit offenen Ohren zuhört. Aber die Verzögerung blieb, und heute bin ich sehr sehr vorsichtig mit solchen „Tests“ geworden.

      Es war wohl anfangs mehr die Faszination der Sprache. Es lässt fast schon „Allmachtsgefühle“ aufkommen wenn man jeden Unsinn sagen kann, und er wird zunächst mal für wahr gehalten. 😉

    3. Raph Says:

      Wieso erscheinen Blogwiese-Beiträge per RSS mehrfach als neu? Wird noch dem Veröffentlichen noch daran gearbeitet, so dass die Beiträge per RSS nochmals ausgegeben werden?

      [Antwort Admin: Häufig sehe ich erst nach dem Veröffentlichen in der Endfassung Fehler, die ich dann korrigiere. Das löst den RSS aus. Für allfällige Umtriebe bitte ich um Entschuldigung]

    4. Thomas Says:

      @Admin: es gab da mal einen Test über genau das: 2 Forscher haben an einem wissenschaftlichen Konkgress einen Vortrag gehalten über weiss was ich nicht was. sie haben absolut keinen Inhalt vermittelt, sondern nur Unsinn erzahelt, aber natuerlich mit hochstehender Fachsprache.
      keiner hats gemerkt. Das sagt auch viel aus über aktives Zuhören und noch viel mehr, über den Mechanismus der bewirkt, das Marketing-bla-bla so erfolgreich ist.

      Die Verzögerung ist übrigens herrlich im Kino: einerseits merkst du genau, wer Untertitel liest und wer einfach zuhört und zuschaut, anderer seits merkt man bei gewissen Scherzen, die bestimmtes Wissen voraussetzen, genau die dir auch aufgefallene Verzögerung.

    5. tyrannosaurus Says:

      Unter dem Titel

      „Das Experiment — Hochstapler im Hörsaal

      Der Schauspieler Michael Fox zeigte 1970: Experten glauben jeden gekonnt vorgetragenen Unsinn.“

      veröffentlichte das NZZ-Folio im Oktober 2004 diesen Bericht .

      Er zeigt, dass neben der Sprache noch andere Faktoren wie die Ambiance oder das Auftreten des Redners dafür ausschlaggebend sein können, dass über der Form der Inhalt völlig verkannt werden kann.

      Gruss t

    6. vorgestern Says:

      Bei Schwerhörigen ist ebenfalls eine Verzögerung im Sprachverstehen festzustellen. Sie müssen gegebenenfalls vom Mund ablesen, das Gehörte „verarbeiten“ und sich merken. Das braucht viel Energie, die eventuell nicht ausreicht, um alles auch noch zu behalten.

      Sehr interessant, dieses Thema!

    7. Feustel Says:

      @ vorgestern
      ich glaube die Verzögerung kommt vermehrt bei alten Schwerhörigen zustande.
      Bei jungen Leuten ist das eher selten, wenn die eine „Denkpause“ liegt das daran, dass sie möglicherweise ein Wort mitten im Satz nicht verstanden und versuchen aus dem restlichen Satz sinngemäß dieses Wort zu finden.
      Ich kann mir nicht vorstellen das das so wahnsinnig so viel Energie braucht, dass man sich den Rest des Textes nicht merken kann.

    8. Chrigel Says:

      Also ich finde, dass eine Sekunde herzlich wenig ist, wenn man bedenkt was in einem schweizer Kopf in dieser kurzen Zeit alles abläuft.

      1. Uebersetzung von Hochdeutsch ins Schweizerdeutsche
      2. Sich die Frage stellen; war das Ironie?
      3. Pro und Kontra abwägen
      4. Sich für „ja“ entscheiden
      5. Eine passende Antwort ausdenken.
      6. Die CH-Ironie auf D übersetzen und kontrollieren ob es keine Helvetismen drin hat.
      7. Die Betonung so wählen, dass die Ironie erkennbar ist aber nicht zu stark.
      8. Antwort aussprechen

      …und das in nur einer Sekunde… nicht schlecht, oder :-))

    9. weissesambesten Says:

      wer hat eigentlich damit angefangen zu behaupten, als schweizer müsse man das hochdeutsche erst ins schweizerdeutsche übersetzen?

    10. Marcel Widmer Says:

      Das deutsche manager-magazin.de hat heute einen unsäglichen Artikel veröffentlicht: Deutsche in der Schweiz – Geht doch heim ins Reich.

      Wenigstens hat die Schreibende die Blogwiese bzw. Dich, Jens, erwähnt. 🙂

      (Manueller Trackback zu meinem Artikel im JobBlog: Deutsche in der Schweiz: heim ins Reich?

      [Anmerkung Admin:
      Ist bereits rechts auf der Blogwiese unter „Medien über Blogwiese“ verlinkt. Es ist immer die gleiche AP Meldung, die schon bei Blick, 20Min und Spiegel-Online zu lesen war, stets etwas anders redigiert. Darüber morgen in einem Posting mehr. Ja, die Blogwiese erscheint auch am Samstag… ]

    11. Senõr Dickhead Says:

      @Admin: es gab da mal einen Test über genau das: 2 Forscher haben an einem wissenschaftlichen Konkgress einen Vortrag gehalten über weiss was ich nicht was. sie haben absolut keinen Inhalt vermittelt, sondern nur Unsinn erzahelt, aber natuerlich mit hochstehender Fachsprache.
      keiner hats gemerkt. Das sagt auch viel aus über aktives Zuhören und noch viel mehr, über den Mechanismus der bewirkt, das Marketing-bla-bla so erfolgreich ist.

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      Das erinnert mich sogleich an die Bundestagsrede von Loriot.. sehr zu empfehlen, mal reinzuschauen!
      http://youtube.com/watch?v=KGK9peRCQhI