Leben Sie noch? Sind Sie sicher? — Am besten gleich eine Lebensbestätigung anfordern
Nach unserem Umzug in der Schweiz lernten wir in den ersten Jahren fast wöchentlich völlig unbekannte Wörter oder Wortkombinationen: Die Betreibungsauskunft, die Vernehmlassung, den Güselkübel, die Finken, den Motionär, den Goalie, die Zigi, den arroganten freundlichen Deutschen … Mit der Zeit alles kein Problem und eine praktische Bereicherung unseres Wortschatzes. Doch bei diesem hübschen Formular, das wir auf der Homepage der Gemeinde Schlieren fanden, gerieten wir doch wieder ins Staunen:
(Quelle: schlieren.ch)
Was passiert, wenn man diese Lebensbestätigung beantragt hat, 30 Franken zahlte, sie zugeschickt bekommt und in der Zwischenzeit verstorben ist. Ist sie dann ungültig? Werden dann die 30 Franken zurückerstattet? Diese Lebensbestätigung wirft bei uns unweigerlich die Frage auf, ob wir uns eigentlich auch unseren Tod bestätigen lassen können. Ich weiss, eine rein hypothetische Frage, aber ich stell mir gerade vor, eines Tages wache ich auf und bin tot, und bräuchte das dann dringend irgendwie bestätigt, am besten via Online Schalter.
Eine Todesbestätigung oder Sterbeurkunde kann man sich online nicht bestellen, hingegen gibt es da noch das „Handlungsfähigkeitszeugnis“, welches mit Noten belegt, dass man zu jeder Handlung fähig ist.
Achten Sie hier auch wieder bitte unbedingt auf die beiden „Gentiv-S“ zwischen den Teilwörtern. „Handlungsfähigkeitzeugnis“ wäre falsch, „Handlungsfähigkeitszeugnis“ ist richtig. Habe Sie den Unterschied überhaupt bemerkt? Sonst müssen wir das noch ein bisschen üben. Setzen Sie das Wort doch einfach mal in den richtigen Genitiv. Die „Erteilung eines Handlungsfähigkeitszeugnisses“ zum Beispiel. Und das „s“ immer schön stimmlos zischen. Ja, so ist es prima!
Die Zeugungsfähigkeit wird ja häufiger mal bezeugt, aber die Handlungsfähigkeit? Wieder ein neues Wort gelernt. Im Ruhrgebiet würde man, in entsprechender Umgebung und bei passendem Alkoholgehalt, z. B. in der Südkurve auf Schalke, bei der Frage nach einem „Handlungsfähigkeitszeugnis“ sicher sofort von der Handlungsfähigkeit seines Gegenübers praktisch überzeugt werden, nämlich eins aufs Maul kriegen.
Soviel zum Thema: „Vom korrekten Umgang mit Schweizer-Hochdeutschen Formulierungen im situativen Kontext der kommunikativen Gesprächssituation“. (Linguistisches Seminar Sprechakttheorie II)
Eine „Lebensbestätigung“ bekommen Sie übrigens in vielen Schweizer Gemeinden online, falls mal wieder Zweifel ob ihrer Lebendigkeit aufkommen. Siehe die 1’280 Fundstellen von Google-Schweiz. Handlungsfähigkeitszeugnisse sind noch beliebter. Es fanden sich 43’500 Stellen dazu bei Google-Schweiz.
Das wahre Geheimnis der Gemeinde Schlieren versteckt sich in ihrem Adjektiv. Es heisst nicht „schlierener“ sondern „schlieremer„, mit einem „m“ wie Martha oder wie in „Schlei-m“. Auf der Homepage wird das 41 Mal erwähnt: Schlieremer Wald, Schlieremer Berg, Schlieremer Zentrum. Wann wurde denn da aus dem „n“ ein „m“ und warum? Wollte sie keine Schlieren ziehen auf dem Glas, in der Landschaft oder ganz allgmein? Wer kann mir dieses Geheimnis eines Schweizer Adjektivs erklären? Warum „schlierem“ und nicht „schlieren„, wenn die Gemeinde doch Schlieren heisst?
P.S.: Wir sind definitiv schon zu lange weg aus Deutschland… eben finde ich eine „Lebensbescheinigung“ auf der Homepage der Stadt Stuttgart. Auch dort leben also bescheinigte Lebende.
September 12th, 2006 at 0:12
Ihr seid nicht zu lange weg aus Deutschland, Ihr wart nicht lange genug da. Wenn man nämlich Rentner in Deutschland ist, bekommt man alle 5 Jahre die Aufforderung eine Lebensbestätigung an die BfA zu schicken. Unterlässt man das, gibt es auch keine Rente mehr… Aber was weiß das junge Gesocks schon von Rente 🙂
September 12th, 2006 at 8:51
Als ich vor bald 40 Jahren noch Halbwaise in D war, mussten meine Mutter, mein Bruder und ich auch halbjährlich eine Lebensbescheinigung einsenden. Es kommt also nicht aufs Alter an …
September 12th, 2006 at 9:43
In „Zürichdeutsche Grammatik, Ein Wegweiser zur guten Mundart“ von Albert Weber, erschienen im Verlag Hans Rohr, Zürich 1987, Steht unter Kapitel „II Wörter, die die handelnde Person bezeichnen, 2. Wörter auf -er, Untergruppe auf erweitertes -(e)mer auf S. 341, §387: (Erstere) sind Herkunftsbezeichnungen zu Ortsnamen auf -e (aus -heim; (Beispiel: Vältemer sind Bewohner von Välte = Schriftdeutsch Veltheim), ebenso die meisten übrigen auf -e: Meile => Meilemer, Schliere (ohne n!) => Schlieremer. NB: Dasselbe gilt auch zu Ortsnamen auf i : Büüli (= Bülach) => Büülemer!
Gruss eines Zürchers an den Neo-Büülemer Jens!
[Anmerkung Admin: Also nix „Bülacher“ sondern Bulemi-Büülemer!]
September 12th, 2006 at 10:48
Hallo,
darf man fragen, ob eine online zu beantragende „Lebensbescheinigung“ nicht schnorrenden Nachfahren, die den Opa schon längst in der Tiefkühltruhe aufbewahren, Tür und Tor öffnet?
September 12th, 2006 at 11:22
Ich kannte die Lebensbescheinigung auch bisher nur aus Deutschland (vgl. z.B. für die Deutschen in der Schweiz http://www.bern.diplo.de/Vertretung/bern/de/04/Servicespektrum_20Konsularhilfe/Rentenangelegenheiten.html) – es handelt sich also eher nicht um ein schweizerisches Phänomen.
[Anmerkung Admin:
Wobei wir nun noch den Unterschied zwischen „Lebensbestätigung“ (Schweiz) und „Lebensbescheinigung“ (Deutschland) klären müssten!]
September 12th, 2006 at 11:36
@Jens
[… Also nix “Bülacher” sondern Bulemi-Büülemer!…]
Der „Bülacher“ ist „nur“ eine Zeitung (die du ja kennen solltest ;)).
Die „echten Bülacher“ nennen sich, wie oben beschrieben, Büülemer.
Also immer kräftig üben.
Gruss
Bruno (ein Neeremer aus Neeri).
September 12th, 2006 at 12:13
Das mit dem „m“ ist dort, wo ich herkomme (aus der Pfalz, links vom Rhein, nördlich von Frankreich), ganz normal. Jemand, der z.B. wie ich aus der beschaulichen Stadt Germersheim am Rhein kommt, heisst dort „Germerschemer“. Das m (oder -em) ist denke ich einfach die „Faulheitsform“ von -heim, hat sich meiner Ansicht nach aber auf andere Städtenamen übertragen. Ein Bewohner von Speyer (auch am Rhein, auch sehr beschaulich) wird dann auch mal zum Speyremer, vielleicht weil man es von den vielen Orten auf -heim gewohnt ist.
Ich werde jedenfalls immer mehr bestätigt, dass die schweizer Mundart mit meinem Heimatdialekt (Pfälzisch) viele Gemeinsamkeiten hat.
September 12th, 2006 at 12:13
An MaxH
Es geht ja hier auf den Internetseiten der Gemeinden nur um den Antrag, das Formular (in Papierform inkl. Einzahlungsschein) zugeschickt oder auf der Gemeindekanzlei vorbereitet zu bekommen.
Ich bin leider nicht mit genug krimineller Phantasie ausgerüstet, um Kniffs und Tricks zu erfinden, wie man einen tiefgekühlten Opa dazu bringt, seine eigenhändige Unterschrift auf das Formular in Papierform zu setzen.
Mein Finanztipp: Bringen Sie den Opa zu Lebzeiten zu einer Testament-Überarbeitung, begraben Sie ihn ganz normal und treten Sie danach die Erbschaft an; auch wenn man dann halt keine Lebensbestätigungen mehr anfordern kann.
September 12th, 2006 at 14:06
Lebensbestätigung brauchte ich in D für meine Tochter bei Beantragung des Kindergelds. Dass die Kinder noch leben, glaubt man nur in den ersten Wochen nach der Geburt. Wer später beantragt, muss erstmal glaubhaft versichern, dass man es überhaupt soweit durchgebracht hat.
September 12th, 2006 at 14:48
LACH
Der arme Opa von MaxH
September 12th, 2006 at 17:37
kein Witz,vor langer Zeit pflegte ich einen Tetraplegiker bei sich zu Hause, da kam jeweils regelmässig jemand von der SUVA vorbei um zu sehen ob er noch lebt……………..oder ob wir etwa die Rente an seiner statt beziehen….
September 13th, 2006 at 11:03
@Sylv
muss mein Wissen erweitern!
Was zum Teufel ist ein Tetraplegiker? (Tetra = 3 oder 5??)
Liebe Grüsse
von Sylvie an Sylvie
September 13th, 2006 at 11:08
Selten so gelacht! Hab mir umgehend einen Stapel Lebensbescheinigungsfomulare für meine Töchter bestellt, zwecks Umgehung der Erbschaftssteuer. Sie liegen schon in der Tiefkühltruhe. Ich geb sie dann raus.
Übrigens, lieber Wiese: Das mit dem m bei den Schlieremeren (?) ist ja noch Überschau-, und nachvollziehbar. Ein Bewohner von Hochdorf (LU) ist ein „Hofderer“ und das Kaff heisst in Mundart „Hofdere“.
Bruno (Nicht der von Neeri) darum ab sofort: Brun(o)egg
September 13th, 2006 at 12:30
@Sylvie
Wo kennt man das Wort Tetraplegie nicht?
http://de.wikipedia.org/wiki/Tetraplegie
Im Land des Übervaters Guido Zäch kommt man doch an solchen Begriffen nicht vorbei… 😉
September 13th, 2006 at 15:26
DANKE @Urs Müller
*schäm, schäm, schäm*
September 13th, 2006 at 15:34
@Brun(o)egg: Quizfrage: welches Kaff wird „Deret“ genannt? Kleine Hilfe: es liegt im Kanton Luzern. Im selben Kanton wie „Eibu“.
Gruss
Michael
September 14th, 2006 at 5:34
An Original Michael und Brun(o)egg
Die Antwort auf die Quizfrage kann hier in den Kommentaren herausgesucht werden.
http://www.blogwiese.ch/archives/170
Für allfällige phonetische Schreibfehler entschuldige ich mich als nicht im zitierten Kanton ansässiger nachträglich.
September 15th, 2006 at 16:02
Interessante Geschichte. Nur zur Vollständigkeit (und als Antwort auf Ihre Frage): wenn sie sterben, was hoffentlich noch lange nicht eintritt, dann erhalten Ihre Nachkommen/Angehörigen einen Todesschein (=Bescheinigung das Sie auch wirklich tot sind).
November 16th, 2006 at 17:23
Nicht nur in der Schweiz und im grossen Kanton will man sichergehen dass nicht Unberechtigte die Rente abziehen während Opi langsam Gefrierbrand kriegt: in Frankreich heisst der Fötzel „Preuve de vie“ und in Belgien/Flandern „Bewijs van leven“, 2x Lebensbeweis. 😉
Januar 29th, 2007 at 22:49
Das Handlungsfähigkeitszeugnis sagt nur, dass die betreffende Person nach Kenntnisstand ihrer Wohngemeinde nicht entmündigt ist. Bei Grundstücksgeschäften wird das vom Käufer verlangt, zumindest im Kanton Zürich. Andere Verwendungszwecke kenne ich auch nicht.
Ist ganz einfach online (je nach Gemeinde) zu bestellen und im Erfolgsfall nach ein paar Tagen in der Post. Die schauen schlicht in ihren Akten (evtl. Computer?) nach, ob es einen entsprechenden Eintrag gibt.
November 24th, 2010 at 14:21
Echt abgefahren die Wortkombinationen.
März 14th, 2012 at 10:54
Hallo,
Was entspricht dem Handlungsfähigkeitszeugniss in Deutschland? Gibt es sowas überhaupt in Deutschland?