Über die Probleme eines Deutschen mit der Deutschlandflagge
Die Schweizer haben ein absolut ungestörtes Verhältnis zu ihrer Schweizerflagge. Sie hängt während der WM und sonst 4 Wochen vor bis 4 Wochen nach dem Nationalfeiertag am 1. August von vielen Balkonen, ist im Fenster zu sehen, in Schaufenstern, wird als T-Shirt getragen oder als Handy-Warmhaltesocke. Die Schweiz-Marketing-Welle hat alles erfasst, was rot-weiss bedruckbar ist. Sogar ein „Schweizer Metronom“ fanden wir in Bülach im Schaufenster ausgestellt:
Schweizerzeit per Metronom, Schweizermusik per Minischweizerharmonica
In Deutschland aufgewachsen hatte ich über viele Jahre ein äusserst gespaltenes Verhältnis zur Schwarz-Rot-Goldenen Flagge. Sie verkörperte für mich einen Nationalismus, mit dem ich mich nicht identifizieren konnte. In den späten Siebzigern wurde es Mode, Bundeswehrparka zu tragen, und damit „friedensbewegt“ zu demonstrieren, dass Militaria auch friedlich genutzt werden können. Der Hit war ein im US-Army-Shop gekaufter originaler Stahlhelm (ein Wehrmachtshelm war unfindbar und sowieso undenkbar) mit einer hübschen Pflanze darin. Mit oder ohne fünffingrigen Blättern, Hauptsache der Helm wurde zum Blumentopf. Die Deutschlandflagge hingegen, die am Ärmel des Bundeswehrparkas angenäht war, wurde sorgsam entfernt. Undenkbar, mit so einem „Nationalsymbol“ herumzulaufen.
Erkennungszeichen der Deutschen am Strand von Italien oder auf den Champs-Elysees zu dieser Zeit waren die weissen Tennissocken in den Holzkloggs, die erst später zu Jesuslatschen bzw. ergonomischen aber potthässlichen Birkenstocksandalen mutierten. Deutsche im Ausland wollten lieber nicht so leicht erkannt werden. Anders als die Kanadier, die stolz ihre Ahornblattflagge am Rucksack bei der Interrailfahrt durch Europa trugen, hielten sich Deutsche Globetrotter mit offenem Nationalsymbolen lieber zurück. Doch auch das hat sich geändert. Dieses Haus entdeckten wir in der Altstadt von Bülach.
An der Position der Deutschlandflaggen erkennen wir: Hier wohnt ein Ostdeutscher und ein Westdeutscher.
Der Bewusstseinswandel kam erst mit der Wende 1989 und mehr noch mit dem kurz darauf erlebten Freudentaumel der gewonnenen Weltmeisterschaft 1990 in Italien.
(Foto Nachrichten RTL 10.06.06: Autokorso in Berlin bereits nach dem 1. Gruppenspiel der Deutschen gegen Costa Rica!)
Es war die Freude nach dem Mauerfall, die erste gesamtdeutsche sportliche Glanzleistung, die Freude der Ostdeutschen, zum ersten Mal begeistert für „Deutschland“ brüllen zu dürfen, was ihnen 40 Jahre lang verboten wurde. In der DDR war Deutschland nur ein kleines Adjektiv vor der „demokratischen Republik“. Zögerlich fingen dann auch die Westdeutschen an, stolz für ihr Land einzustehen und voller Enthusiasmus die Aufbauarbeit Ost zu beginnen.
Es war Goldgräberzeit. Alles schien möglich, und es fehlte dermassen an Bargeld für den Aufbau, dass zeitweise 14.5 % Zinsen auf festverzinste Staatsanleihen gezahlt wurden! Habenszinsen, die der Staat seinen Bürgern auf Pump finanzierte. Übrig davon blieben später über 1.400 Milliarden Euro Staatsschulden:
Laut Angaben des Bundes der Steuerzahler beträgt der aktuelle Schuldenstand des Staates 1418 Mrd. Euro (Januar 2005), das entspricht 65,9% des Bruttoinlandsproduktes (zum Vergleich: 1960 waren es noch 18,5%) und ca. 17.200 € pro Kopf.
(Quelle: Wikipedia)
Die unglaublichen Einnahmen von 49 Milliarden bei der Versteigerung der UMTS Lizenzen im August 2000 konnten diesen Schuldenberg gerade mal um 2.8% vermindern helfen.
Jetzt ist die WM in Deutschland. Viele Tausende Gäste aus der ganzen Welt haben ihre Flaggen mitgebracht und zeigen Sie auch. Und ganz langsam fangen auch wir Deutsche an, uns an die Normalität unserer Flagge zu gewöhnen:
Auch der Nachbar hat geflaggt. Allerdings nach hinten raus, zum Park. Eine klare patriotische Positionierung, aber nicht so aufdringlich. Die guten alten Fahnenhalter aus DDR- bzw. Führers Zeiten sind meist der gründlichen Sanierung zum Opfer gefallen. So muss man sich behelfen. Ein Anflug von Problempatriotismus.
Da ist man anderswo nicht so zimperlich. Vom Ballermann 6 auf Mallorca bis zum Camp Warehouse in Kabul leuchten die Farben Deutschlands, und weit über eine Million Menschen haben das 4:2 beim „Public Viewing“ (formerly known as „Deutsches Eck„) frenetisch gefeiert.
Ein erster Autokorso hupte sich anschließend über den Kurfürstendamm. Hier und da wurden Raketen abgefeuert oder ein OléOléOlé in den traumhaften Juninachthimmel gesandt.
Selbstverständlich übrigens, dass wir Kaiserwetter haben. Die Welt zu Gast bei Frierenden – das war gestern.
Selbst im einst autonomen Kreuzberg strahlt es schwarz-rot-gold – von Campingstühlen und Handtaschen, Mützen und Gesichtshälften. Einige Junge hüllen sich gleich ganz ins nationale Tuch. Was die Autos betrifft: Hier geht der Trend klar zur Zweitfahne mit der praktischen Haltevorrichtung von Aldi.
(Quelle: Spiegel Online vom 10.06.06)
Die Deutschlandflagge, das war für uns immer nur das Ding, was auf Halbmast hing, wenn ein nationales Unglück passiert oder ein Bundespräsident gestorben war. Ausserdem war sie wichtiges Accessoire für den „Fahneneid“ der Bundeswehr, bei dem junge Soldaten feierlich vereidigt wurden, für den Frieden in der Bundesrepublik zu kämpfen, während 300 Meter weiter das Trillerpfeifenkonzert der militanten Pazifisten von friedlichen Bereitschaftspolizisten per Schild und Schlagstock in Schach gehalten wurde.
Nun also auf zu Aldi, oder zu Migros, und schnell noch so ein Teil kaufen, bevor Deutschland im Achtelfinale Viertelfinale Halbfinale rausgeflogen ist und wir das Ding für die nächsten 4 Jahre wieder einmotten müssen!
P.S.: Offensichtlich sind nicht alle im WM Fieber:
Juni 12th, 2006 at 0:27
Die Deutschlandfahnen werden spätestens nach dem 9. Juli wieder verschwunden sein. Wahrscheinlich eher früher, weil Deutschland es nicht ins Finale der WM schafft.
Egal, mich nerven die Fahnen schon jetzt und in Bremen finden gar keine WM-Spiele statt.
Juni 12th, 2006 at 7:33
Ich freue mich drüber, dass man an jeder Ecke eine DEUTSCHE Flagge findet. Endlich gibt es hier so was wie ein National-Gefühl, auch wenns nur durch Fussball ausgelöst ist, find ichs trotzdem toll.
Und übrigens hängen die Flaggen auch hier in little Istambul…
Juni 12th, 2006 at 8:57
Übrigens ist die Entwicklung bei der Schweizer Fahne auch nicht so viel anders: Lange Zeit galt offenes Zeigen des Kreuzes auch als Symbol für tumben rechten Patriotismus. „Hip“ wurde das Ding erst so etwa in den letzten fünf Jahren.
Juni 12th, 2006 at 9:00
Re Deutschland. Solange das Land Exportweltmeister bleibt, werden die Deutschen respektiert, bewundert sogar. Die D-Flaggen sollen auch NACH der WM hängen bleiben!
Am 1. August hängen auch die Kantonalflaggen auf vielen Balkonen in der Schweiz.
Uebrigens, die Karikatur auf der Titelseite des TA Samstag war echt funny!
Was Humor angeht, ich mag Achim Winter (Leute Heute).
P.S. Es war Gordon Brown (Schotte, GB-Finanzminister) der auf die Idee gekommen war, die UMTS Lizenzen zu versteigern. Es hat geklappt, in der Zeit der „irrational exuberance“. Aber sofort platzten die T-Blasen in mehreren europäischen Ländern, und Millionen Kleinaktionäre haben im Nu viel Geld verloren. Und Brown soll der nächste britische Premierminister werden??
Re Staatsschulden – die müssen nie abgebaut werden.
Ein Staat ist nicht mit einer Privatperson zu vergleichen!
Juni 12th, 2006 at 10:05
Die Typen mit den Kanadaflaggen auf dem Rucksack sind in den meisten Fällen Amerikaner, die sich als Kanadier tarnen.
Juni 12th, 2006 at 10:32
Ich wollte mir schon lange an eine Wand meiner Wohnung Deutsche- und Schweizerfahrne Seite aufhängen. Da offentbarte sich ein anderer Grund, warum so wenige Fahnen hängen – sie sind kaum zu bekommen. Jetzt hab ich endlich die Deutsche, allerdings bekommt man die Schweizer trotz WM noch nicht im Supermarkt. Meine Mutter hat schon angekündigt, dass die Fahne an Ihrem Haus in Deutschland die WM lange überleben wird.
Juni 12th, 2006 at 10:50
Ne ganz andere Frage beschäftigt mich: Wo bekomme ich kleine Deutschland-Fähnchen her, alle Blumenkästen an dem Haus in dem ich wohne sind schon voll mit Schweizerkreuzen, da will ich mal einen Farbtupfer setzen.
Der ‚Fahneneid‘ ist übrigens Geschichte, bei der Bundeswehr gibt es für Wehrpflichtige lediglich ein ‚Feierliches Gelöbnis‘ und das ist weder ein Eid noch ein Schwur. Der Text lautet daher auch „Ich gelobe…“. Die deutsche Flagge (bei der Bundeswehr gibt es ‚Fahnen‘ nur im Zusammenhang mit Alkohol) wird dabei ähnlich verwendet wie in der Schweiz.
Juni 12th, 2006 at 11:55
Liegt’s daran, dass man im Exil heimatbewusster wird? Oder ist es nur der Fussball? http://i.ch-b.in/2006/05/15/wegen-wm-doch-deutschland/
Wie auch immer. Wenn die deutsche Fahne irgendwann hip wird, dann waren wir wenigstens von Anfang an bei der Transformation dabei…
Juni 12th, 2006 at 12:15
Das Symbol des Schweizerkreuzes war marketingmässig zu Zeiten der Swissair noch kanalisiert: nämlich auf dem Heck der Flugzeuge. Dann gab es die Swissair nicht mehr, und die vielen Schweizerkreuze sind in die Freiheit entlassen worden. Sie haben sich als sexy swissness getarnt und sind seither auf Ostereinern, Äpfeln, Wäsche, Skiern, Fahrradhelmen, Feldflaschen, Joghurtbechern und weiteren Gadgets zu finden. Das Schweizerkreuz ist ein Brandingsymbol und die Bürger tragen das stolz mit. Au contraire, Schwarz-Rot-Gold sind die deutschen Nationalfarben.
Juni 12th, 2006 at 15:11
Rein vom ästhetischen Standpunkt gesehen ist die Schweizer Flagge wesentlich gefälliger als die deutsche. Mein Taschenmesser möchste ich nun wirklich nicht in Schwarz-Rot-Gold haben….
Juni 12th, 2006 at 16:26
@ Basil: Schöne Geschichte, die Umdeutung des Groundings als Niederkunft des Schweizerkreuzes. Gefällt mir.
@ Alle: Machen wir ein Open Logo Project, damit wir Deutschen auch eine Form bekommen – und nicht nur Farben?
Juni 12th, 2006 at 16:33
@ Arni Völker.
Alle Trends kommen aus den USA, oder? Und deshalb auch wer „hip“ ist wird zunächst einmal in den USA entschieden resp. als „Hip“ erkannt werden! Beispiel Dieter Zetschke (?), Boss bei MercBenz in den USA, ist nach mehreren erfolgreichen Jahren in den USA im angelsächischen Raum „hip“ geworden. He’s a great communicator, and the AMis sseem to like his „walrus“ moustache. Hauptsache – wichtig ist, dass Deutschland Exportweltmeister weiterhin BLEIBT!
Also, mit der Zeit wird diese „Deutsche sind Hip-Image“ über den Grossenteich kommen und voilà, die Deutschen werden automatisch auch als „hip“ in Ganzeuropa* erkannt werden.
Also, Arne – patienter, cher ami!
TTFN
Fiona
P.S. * Ausnahme Frankreich – where German women, German men, German food, German wine, the German language and German cars are not „the preferred choice“….
P. P.S. Man sollte NIE vergessen, die USA ist in Wirklichkeit KEINE DEMOKRATIE (es wird nur alle 4 Jahre gewählt) sondern EINE PLUTOKRATIE (aus dem griechisch – was etwa the RICH have the POWER, heisst).
Juni 16th, 2006 at 9:56
Das ganze Fahnengepflaster geht mir auf den Sack. Am Anfang wars ja noch speziell, aber jetzt wos sämtliche Artikel von Kopf bis Fuss und für alle Verwendungszwecke mit dem CH-erkreuz gibt, nervts nur noch. Mittlerweile werden ja sogar chinesische Pfannen mit dem Kreuz drauf verbraten:-)
Muss wohl mal wieder mal mit einem andersnationalen Fahnenleibchen rumlaufen. Mit dem Türkenleibchen wurde ich jedenfalls auf türkisch angesprochen. Was wohl passiert, wenn ich mal mit Deutschlandleibchen rumlauf??*grübel*:-)