Wenn eine Schwiegermutter unter die Verleger geht
Bisher kannten wir den Verlag als Wirkungsstätte eines Verlegers, der sein Geld damit verdient, Bücher und andere Schriften drucken zu lassen und sie dann zu verlegen. Nein, nicht das „Verlegen“ was Sie vielleicht jetzt meinen, wenn Sie daheim einfach die Autoschlüssel nicht mehr finden können, weil Sie sie vielleicht „verhühnert“ haben, also in der Wohnung irgendwo verlegt. Wir meinen „verlegen“ im eigentlichen Sinne im Sinne von „Bücher veröffentlichen“.
Das deutsche Verb „verlegen“ ist ausgesprochen vielseitig, wie uns der Duden lehrt:
verlegen
[mhd. verlegen, ahd. ferlegen; 7:
urspr. = Geld (für die Druckkosten eines Buches) vorlegen, vorstrecken]:
Nehmen wir dies als Grundbedeutung.
1. an eine andere als sonst übliche Stelle legen u. deshalb nicht wieder finden: den Schlüssel, die Fahrzeugpapiere, die Brille verlegen; ich habe meinen Schirm verlegt; Ein verlegter Totozettel und die Folgen (Hörzu 18, 1981, 65).
Für dieses „Verlegen“ kann man in Deutschland auch „verschusseln“ und in der Schweiz „verhühnern“ sagen.
2. etw., wofür ein bestimmter Zeitpunkt bereits vorgesehen war, auf einen anderen Zeitpunkt legen: eine Tagung, einen Termin verlegen; die Premiere, Veranstaltung ist [auf nächste Woche] verlegt worden.
Da werden wir aber ganz verlegen, wenn wir unser Rendezvous verlegen müssen. In Deutschland hat sich das „Stelldichein“ dafür nie durchsetzen können, wer stellt sich schon selbst ein, ausser er ist Arbeitgeber? Duden-Bedeutung 3. – 6. bezieht sich aufs „Rohre verlegen“ u. ä., doch dann kommt
7. (von einem Verlag) veröffentlichen:
einen Roman verlegen; seine Werke werden bei Faber & Faber verlegt; dieses Haus verlegt Bücher, Musikwerke, Zeitschriften; … als Inhaber der Cotta’schen Buchhandlung, die auch Goethe verlegte (W. Schneider, Sieger 464).
Und wo bleiben die „Schriften verlegen“ in der Schweiz? Wir fanden Sie in einem Artikel des Tages-Anzeigers vom 18.04.06 auf der Titelseite. Es geht um die Schwiegermutter von Berlusconi, die ihre Schriften nach S-chanf verlegt.
Diese Gemeinde im Engadin schreibt sich übrigens wirklich so mit Bindestrich und freistehendem S, dass ist kein Trennungswitz. Sie hat einen Ortsteil namens „Cinuos-chel„, auch mit Bindestrich und klein weiter.
Schreibt die 76jährige Flora Bartolini an einem dicken Buch? Werden ihre Werke nun in dem kleinen Dorf „S-chanf“ gedruckt und verlegt? Nein, ganz und gar nicht. Um den Satz aus dem Tagi verstehen zu können, müssen wir die besondere Bedeutung von „Schriften“ in der Schweiz erklären. Dazu meint unser Variantenwörterbuch:
Schriften CH die; nur Plur.:
schriftliche [amtliche] Legitimation einer Person; Ausweisdokument: „Bei einem Wegzug muss die Niederlassungs- bzw. die Aufenthaltsbewilligung der Gemeinde zurückgegeben werden, damit die Einwohnerkontrolle die deponierten Schriften aushändigen kann“ (Gemeinde Reutigen, 2002, Internet)
Seine „Schriften verlegen“ heisst also in der Schweiz, alle seine Ausweise und Bewilligungen auf eine andere Gemeinde tragen, sich dort anmelden und seinen ersten Wohnsitz deklarieren. Frau Bartolini tut dies, damit sie in S-chanf ein Haus kaufen kann, denn das geht nicht, wenn man nicht dort wohnt, bzw. so tut als ob man dort wohnt. Das bringt ihr ein paar nette Vorteile. So schreibt der Tages-Anzeiger weiter:
„Sie profitiert bei den Steuern von einem Pauschalabkommen, gültig für Personen, die in der Schweiz domiziliert, hier aber nicht erwerbstätig sind.“
Das Wörtchen „domiziliert“ haben wir jetzt nicht mit „domestizieren“ (von lat „domesticare“ = zähmen) verwechselt, aber messerscharf mit stets „parat“ (und nicht bereit) gehaltenem Fremdwörterbuch in der Schweiz herausgefunden, dass es gleichfalls etwas mit „Domus“, der Heimstatt/dem Haus zu tun haben muss. Unser Variantenwörterbuch sagt es klipp und klar:
domiziliert CH Adj. (nicht steigerbar): „wohnhaft“:
„Das Generalsekretariat des Europäischen Musikrates (EMR), domiziliert in Aarau, zieht am 1. Januar 2000 nach Bonn“ (Blick 28.10.1999)
Übrigens auch im deutschsprachigen Teil von Belgien bei den Flamen bekannt. Es gibt also noch andere kleine Völker, die sich von Französischen Nachbarn das ein oder andere Wort abgucken. „Fritten“ zum Beispiel, oder „Mayonnaise“, zu denen wir in Deutschland bekanntlich „Pommes Schranke“ sagen. Vgl. Blogwiese.
April 26th, 2006 at 7:38
Vielleicht in diesem Zusammenhang noch interessant und zumindest für mich neu (Zitat aus Wikipedia, Stichwort Rumantsch): „Da aber einerseits der Zischlaut, der unserem deutschen „sch“ entspricht, auch durch „sch“ dargestellt wird, andererseits aber auch die Kombination aus „s“ und „ch“ sehr häufig auftritt, wird in Ober- und Unterengadinisch zur Unterscheidung beider Laute in der Schrift mitten im Wort ein Bindestrich gesetzt, was sehr gewöhnungsbedürftig aussieht. Ortsnamen wie „S-chanf“ oder „Cinuos-chel“ sind also ein Wort und als „Schtjanf“ bzw. „Zinuoschtchel“ zu artikulieren.“
April 26th, 2006 at 8:19
Wäre es nicht möglich, wie in den früheren Beiträgen mehr über die allgemeinen Unterschiede zwischen der Schweiz und Deutschland zu schreiben, statt nur spezielle sprachliche Sachen vorzustellen? Am Anfang fand ich die Blogwiese viel interessanter als jetzt, wo in allen Beiträgen entweder unsere Einstellung zu den Deutschen bzw. dem Hochdeutschen angeprangert oder neue Wörter präsentiert werden, bei denen ich mich ernsthaft frage, wie man ohne sie auskommen kann…
In diesem Sinne: Back to the Roots, bitte!
April 26th, 2006 at 8:52
> domiziliert CH Adj. (nicht steigerbar): “wohnhaft”:
Eigentliche schade, dass man „domiziliert CH Adj.“ nicht steigern kann. Das würde gerade im Fall der Schwiegermutter von Berlusconi dem jeweiligen Stand der Gerüchte (ist sie jetzt von Rechts wegen domiziliert bzw. so domiziliert, dass sie ein Haus kaufen darf/durfte oder nicht?) bzw. der belegten Fakten besser Rechnung tragen.
April 26th, 2006 at 9:25
Tja, romanisch ist schwierig. Dir ist doch noch ein Lapsus unterlaufen: „In S-chaf ein Haus kaufen kann“. In Schaf kann man vielleicht auch ein Haus kaufen, aber das Dorf heisst nun mal S-chanf – auch wenn dich das irritiert. 🙂
April 26th, 2006 at 10:31
@Jules
Das Problem ist einfach, dass nach 264 Blog-Beiträgen irgendwann alle allgemeinen Unterschiede durchgekaut worden sind, und neue kann ich mir keine mehr ausdenken, ohne wahrhaftig zu bleiben.
Der Autor von „Russendisko“, Wladimir Kaminer, hat mal auf die Frage: „Was schreiben Sie, wenn Sie letzte Anektdote aus Berlin erzählt haben, die sie kennen“, geantwortet: „Dann mache ich Rockmusik“.
Wenn ich mal wieder einen neuen allgemeinen Unterschied sehe, schreibe ich sofort was drüber. Bis dahin übe ich schon mal ein bisschen E-Gitarre, denn der Moment wird kommen, da kann ich es brauchen.
Die sprachlichen Unterschiede sind eben die offensichtlichsten, die auch immer wieder ein Stück anderer Lebensrealität widerspiegeln.
Die „Schriften verlegen“ ist mehr als nur eine andere Ausdrucksweise, dahinter steht ein anderes „Bürgerkonzept“. Dort wo man in der Schweiz seine Schriften hinterlegt, dort wohnt und lebt man, dort kann man zur Miliz abberufen werden etc. In Deutschland gibt es nichts zu hinterlegen, da wird nur ein Formular abgegeben, und auf den Personalausweis kommt ein neuer Adresskleber drauf. Fertig.
Das ist in der Schweiz weit mehr als nur ein „anmelden“ oder „ummelden“, wie in Deutschland. Sorry, wenn das nicht immer ein Brüller sein kann.
April 26th, 2006 at 11:02
Re: Schriften „verlegen“.
Jede Sprache (ausser „dead languages“ wie Altgriechisch, Latein usw) ist organisch. Deutsch ist „enclitic“ (wie russisch) und deshalb vom Anfang an eine für angelsächische Menschen schwierige Sprache.
Auf der anderen Seite haben Deutsche als Anfänger normalerweise keine Schwierigkeiten mit der englischen Sprache. Erst später wird’s zunehmend problematisch. Weshalb? Weil die Grammatikregeln immer wieder nicht funktionieren: es gibt so viele Ausnahmen, für die es keine grammatische Erklärung gibt. Diese Ausnahmen werden durch „Usage“ resp. „Style“ gerechfertigt.
Re: USAGE / CORRECTNESS
Ich zitiere aus „Practical English Usage“
Michael Swan. Oxford Univ. Press
ISBN 0-19-431197-X
„The explanations deal mainly with modern British English….
e.g. formal and informal usage, or spoken and written language….
und weiter:
Correctness. If we say that a form is „incorrect“ we may mean that it is not accepted by some educated people, but is accepted as right by others“.
Also, man muss halt „Usage“ und „Style“ akzeptieren, da es gibt immer wieder Ausdrücke, für die es keine logische oder grammatische Erklarung gibt – „Schriften verlegen“ zum Beispiel?
Fiona
April 26th, 2006 at 12:23
@Fiona
Nein, der Witz beim „Schriften verlegen“ ist nur die aussergewöhnliche Kombination. Das Wort „verlegen“ heisst hier einfach, etwas an einen anderen Ort bringen, so wie man seinen Wohnsitz ins Ausland verlegen kann. Die Besonderheit ist das Wort „Schriften“, dass in der Schweiz eine Bedeutung hat, die im Allgemeindeutschen nicht existiert: Siehe Zitat aus dem Variantenwörterbuch.
Die Kombination von „verlegen“ und „Schriften“ ist deswegen so hübsch, weil es ja auch einen Verleger gibt, der Bücher und andere Schriften verlegt, womit aber was ganz anderes gemeint ist.
Der Ausdruck ist extrem korrekt, kein Problem damit, nur die Sonderbedeutung von „Schriften“ ist hier für Deutsche erklärungsbedürftig.
Was Du mit der Englischen Grammatik ansprichst, nennt man glaube ich „Tiefenstruktur-Grammatik“, die ist schwer in Worte zu fassen.
Gerade weil Englisch eine einfach Syntax hat, und mit weniger Formen auskommt, wird alles auf einer tieferen Ebene abgebildet. Ein spannendes Thema! Aber nicht für heute.
Gruss, Jens
April 26th, 2006 at 12:28
Was genau wird denn dort alles hinterlegt? „Ausweise und Bewilligungen“ ist ja nun recht allgemein formuliert.
Und ich finde schon, dass vieles weit über den rein sprachlichen Unterschied hinausgeht, auch wenn es vielleicht nicht immer zum Kugeln komisch ist. Man muss ja nicht immerzu über/mit den Schweizern lachen. Aber man darf durchaus die Unterschiede in der Lebensweise/im politischen System/der Kultur/im Rührei-Rezept hervorheben.
April 26th, 2006 at 12:47
@Branitar
Die „Schriften“ sind der Heimatschein:
„Der Heimatschein ist der Bürgerrechtsausweis des Schweizers bzw. der Schweizerin im Inland.
Jede/r mündige Schweizer/in hat Anspruch auf einen Heimatschein.
Unmündige, die nicht bei ihren Eltern leben oder nicht das gleiche Bürgerrecht wie ihre Eltern besitzen, und Entmündigte können mit Zustimmung des gesetzlichen Vertreters einen Heimatschein beanspruchen.
Jedem/r Schweizer/in darf nur ein Heimatschein ausgestellt werden.“
Wenn du dich als Schweizer in einer Gemeinde anmeldest, musst du deinen Heimatschein abgeben (hinterlegen). Dafür erhälst du einen Schriftenempfangschein. Bei Wegzug aus der Gemeinde erhälst du deinen Heimatschein zurück.
Bei Wegzug ins Ausland wird dein Heimatschein an deinen Bürgerort geschickt und dort für dich hinterlegt.
Gruss
Bruno
April 26th, 2006 at 12:54
Meine Schriften (=Heimatschein) sind an meinem Wohnort hinterlegt, nachdem ich sie anlässlich meine Wohnortswechsels dorthin verlegt habe. Verlegen beinhaltet nach meiner Auffassung die Bewegung vom alten zum neuen Wohnort.
April 26th, 2006 at 14:09
Diese Themen-Diskussion hat zwar nichts mit nach Sc-hanf verlegten Schriftzeichen zu tun. Dennoch eine kleine Anregung:
Offenbar kennst du nicht die Sendung Karambolage auf Arte. Hier wird allsonntags deutscher mit französischem Alltag verglichen – in typisch deutscher Analyse und mit französischem Witz aufgelockert. Neben Wortanektoten haben da auch Geschichten über Bräuche oder Kultprodukte einen Fixplatz. Klick mal auf «Archiv»! Die Themen sind unerschöpflich.
Meines Wissens hat Wladimir Kaminer noch keine Rock-CD verlegt.
April 26th, 2006 at 14:14
@transalpin
Kaminer hat damit gedroht… Mit Plattenauflegen hat er ja ganz gut Erfahrung.
Werde mal wieder TV gucken und nicht immer nur Blog schreiben in meiner Freizeit. Danke für den Tipp!
April 26th, 2006 at 15:40
@Jules
Wenn du wirklich viel und täglich etwas Neues über die Unterschiede zwischen der Schweiz und Deutschland erfahren willst, dann lies doch einfach mal jeden Tag den Blog vom Geissenpeter.
Deutschland ist gross und es passiert dort eine Menge und der arme Geisenpeter kommt gar nicht nach mit dem Schreiben. Du musst nicht Blogwiese lesen, es gibt ja so viele interessante Blogs, vielleicht schreibst du ja selber mal einen, hast du schon mal an 263 Tagen etwas Spannendes geschrieben? Mit der Kritik hast du ja keine Mühe, vielleicht geht dir das mit dem Schreiben auch so locker von der Hand.
@Jens
Ich finde es immer noch spannend, welche Themen dir noch einfallen und ich lese die Blogwiese nach wie vor mit grossem Vergnügen. Die Zeit für die E-Gitarre ist meiner Meinung nach noch nicht angebrochen, da sei mal zuversichtlich. Man kann nicht eine lustige Geschichte an die andere hängen, du hattest schon jede Menge Artikel über die ich herzhaft lachen konnte, doch ich habe nicht den Anspruch, tägliche Witzigkeit serviert zu bekommen. Ob Jules weiss, dass du nebenher noch arbeitest? Du bist schliesslich kein Journalist sondern ein sehr fleissiger und intessanter Blogger.
April 26th, 2006 at 16:33
Harry R. – danke für die Blumen, nur ist mein Blog in den letzten Wochen ein wenig eingeschlafen (Asche auf mein Haupt!). Aber ich werde ihn wieder regelmäßiger aktualisieren, versprochen!
Und auch ich lese Jens´Blog nach wie vor mit großem Vergnügen – dass ihm immer was Neues einfällt und vor allem: dass er ihn mit deutscher Zuverlässigkeit jeden Tag kurz nach Mitternacht wieder auffüllt, das verdient Respekt.
April 26th, 2006 at 17:01
Schweizer dürfen sich auch „umbürgern“ lassen.
Also wer unter dem Steuerelast des Kantons Tessin oder Genf, zum Beispiel, zu sehr leidet :-), kann sich dort abmelden und in ZG oder SZ oder am besten (seit Anfang 2006 wegen der degressiven Steuer) in OW sich anmelden. Nach gegebener Frist kann man sich (im Schnellverfahren) in einem dieser o.g. Steueroasen einbürgern lassen.
Fiona
April 27th, 2006 at 1:46
Also ich hatte letzthin auch meine Schriften verlegt…
Nach längerer Suche habe ich die CD mit der Schrift Helvetica 45, 55 und 75 aber dann unter einem Stapel Zeitungen wieder gefunden 😉
Es lebe die Mehrdeutigkeit!
Mai 1st, 2006 at 12:41
Hier die Geschichte ein Waadtländer Politikers, der mit politischem Ziel seine Schriften nach Obwalden verlegt, bzw. wieder zurückverlegt:
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