Nimmt es ihnen auch manchmal den Ärmel herein? — Neue alte Schweizer Redewendungen
(reload vom 14.02.07)
Oft wurde ich gefragt, warum die Blogwiese mehr politische Themen bringt und nur noch wenig Sprachliches. Das liegt an der Natur der Sache. Irgendwann ist jeder Helvetismus und jede Schweizer Redewendung gefunden und erklärt. Die tägliche Tagi-Lektüre bringt zwar immer noch jede Menge Fundstellen, aber langsam „sind wir es uns gewohnt“, und fangen beim „gewohnt sein“ auch schon an, es reflexiv zu gebrauchen. Es klingt so wunderbar verschnörkelt, nur „tönen“ müssen bei uns nach wie vor einzig und allein die Lieder. Zu fast jedem Fund aus dem Tagi gab es schon irgendwann in den letzten 1 ½ Jahren ein Posting.
Der Versuch an Weihnachten, die Volksweise „Tön Glöckchen, töne töne tön. Tön, Glöckchen tön“ in der Schweizerdeutschen Version zu singen, misslang völlig. Das tönte einfach nicht gut. Dafür wurde an Heiligabend in der Reformierten Kirche zu Bülach „Stille Nacht“ zur Abwechslung auf Schwiizerdütsch intoniert, den Text hatte man per Diashow an die Wand zum Ablesen projiziert. Letztes Jahr stand an gleicher Stelle noch die Englische Fassung. Welche Sprache dort diese Jahr an Weihnachten projiziert wird?
Doch dann fand sich im Tages-Anzeiger vom 07.02.07 in einem Bericht über einen männlichen Kinderbetreuer der gehaltvolle und aufschlussreiche Satz:
„Nach ein paar Tagen im Läbihus nahm es Urs Neuhaus den Ärmel herein, und er begann die zweijährige Lehre“.
(Quelle Foto: weblog.burdamode.com)
Interessant! Während man woanders die „Ärmel hochkrempelt“ um eine Sache mit voller Energie angehen zu können wirkt in der Schweiz ein „ES“, im Drei-Instanzen-Modell nach Siegmund Freud vor dem „Über-ICH“ und dem „ICH“ die erste wichtige Instanz im Leben eines Menschen.
„Es nahm ihm den Ärmel herein“. Wo hinein? Ins Haus? In die Jackentasche? Die Redewendung ist zwar schick, aber leider ohne Zuhilfenahme von Fachbüchern nicht zu verstehen. Wir fanden im Internet:
Beat und mir würde es den Ärmel herein nehmen, wenn wir jetzt einen Hund haben könnten, aber eben, wir möchten noch etwas Töff fahren und reisen
(Quelle: Google Cache)
oder:
Manch einem wird es dermassen „den Ärmel hereinnehmen„, dass er sich sogar einen Videoprojektor gönnen und damit sein Wohnzimmer tatsächlich zum Kino machen wird.
(Quelle: dvd-forum.ch )
Es nimmt also noch anderen Menschen bei den unterschiedlichsten Tätigkeiten den Ärmel hinein. Immer nur einen, nie zwei Ärmel. Und immer ist das geheimnisvolle „ES“ mit dabei im Spiel.
Kurt Meyers Schweizer Wörterbuch verschafft uns Klarheit:
„Ärmel, der: * es nimmt mir den Ärmel hinein (mundartnah, salopp) — es packt mich.
Jeden Sommer nimmt es mir den Ärmel hinein. Dann packe ich meine Siebensachen zusammen … werde sie … in den Wagen und fahre davon (Nebelspalter 1971, 33, 36) (…)
(Quelle: Schweizer Wörterbuch S. 66)
Jetzt ist uns klar, warum dieser Ausdruck so geheimnisvoll daherkommt. Es geht hier um ungezügelte Leidenschaft, um ungebremste Willenskraft. „Es packt mich“, ich kann nichts dafür, ich handel gegen meine Vernunft und gegen ohne bewusste Steuerung.
Etwas, was wir von den beherrschten und stets leidenschaftslosen Zürchern so nicht gewohnt sind. Wie schrieb einst ein Leser der Blogwiese als Erklärung, warum im Zürcher Schauspielhaus so wenig und zaghaft geklatscht wird: „Wenn Du Leidenschaft willst, musst Du in die Innerschweiz gehen. Im Zwingli-Züri ist jede aussergewöhnliche Gefühlsregung oder Beifallsbekundung verpönt“.
Es packt einen also, wenn „es einen den Ärmel hinein nimmt“. Vielleicht kommt das vom Fahrwind auf dem Trecker? Ab Tempo 35 Km/h weht es den Ärmel nach innen wegen der hohen Geschwindigkeit? Sie merken, wir suchen bereits wieder Erklärungen aus der Welt der Schweizer Agrarwissenschaften, wo ja sonst die meisten Redewendungen herkommen.
Wie könnte man das „voll gepackt sein“ sonst umschreiben? „Es haut mich vom Stuhl“, „es haut mich aus den Socken“, „ich bin da voll drauf abgefahren“. Klingt alles mehr nach Besäufnis als nach Leidenschaft. Sonst noch Erklärungsversuche?
Ach ja: Wann nimmt es den Ärmel eigentlich wieder hinaus?
Juni 28th, 2010 at 13:03
Als Schweizer habe ich das mit dem Ärmel zuvor noch nie gehört. Entweder ist es veraltet oder wie so viele Wendungen in diesem Blog nur in der Ostschweiz gebräuchlich.
Juni 28th, 2010 at 14:22
Ich kenne den Ausrduck sehr gut. Gebräuchlich für diese Schlüsselmomente, in denen man etwas entdeckt, das einen einfach völlig mitreisst. Die Assoziation dabei ist für mich das (zwar eher unerfreuliche) Bild von jemand, der langärmlig an einer Maschine arbeitet, und der Ärmel wird plötzlich von der Maschine erfasst. „Es hät mer de Ärmel inegnah“ heisst dann, es traf mich unerwartet, und es war unwiderstehlich.
Juni 28th, 2010 at 20:21
Weitere 36 Antworten zu diesem Thema gibt es hier bei der Erstausstrahlung dieses Eintrags:
http://www.blogwiese.ch/archives/525
Juni 28th, 2010 at 20:29
Der @Tom66 ist mit dem Ärmel schon recht in die Nähe des Ursprunges gekommen.
Im historischen Sinne waren die Reisewagen die Quelle dieses Sinnspruches. Bis in die Renaissance-Zeit haben die damaligen Reisewagen in ihrem Aufbau einen recht engen Querschnitt besessen und sind im Grundsatz nicht anders gewesen wie die alten römischen Reisewagen ca. 1.000 Jahr zuvor. Also schmal, kurz, ohne Verglasung, der Hauptsitz im hinteren Aufbau in der Nähe bei der Hinterachse.
Und hier liegt der Lösungsansatz: Denn beim Rausschauen, Hand herausstrecken u.ä.m. konnte der Ärmel des Reisenden sich im Rad verfangen und die Oberbekleidung / Reisenden in das Rad hineinziehen. Die Umstände waren fernerhin auch so, dass die Kleidung der Reichen und Mächtigen als die vorherrschende Mode sehr weite Ärmelöffnungen hatte.
Üblicherweise konnten diese weiten Öffnungen bis 1,5 Fuß (ca. 0,5 m) weit sein. Es hat sogar Ärmelöffnungen (seltener), Ärmelblenden und Zierklappen (selten) in Längen bis zum Fußboden gegeben, also mit 3 Fuß (ca. 1 m). Gnade Gott dem Trottel im Reisewagen!
Es ist auch auffällig, dass der gemeinte Sinnspruch oft mit Reisen, Fahren, Packen, Entscheiden, schnellen, eiligen und raschen Handlungen im Zusammenhang verwendet wurde und noch wird.
Da das damalige eidgenössische Alemannische ab ca. dem 15. / 16. JH sich langsam vom übrigen römisch-deutschen Sprachgebiet abgekuppelt hat, sind solcherart von altdeutschen, bäuerlichen, forstwirtschaftlichen und besonders auch kriegerischen Sinnsprüchen in der heutigen Schweiz unverändert weiterverwendet worden, auch wenn leider viele Schweizerdeutsch Sprechenden heutzutage den Ursprung und sogar oft den Sinninhalt nicht mehr kennen.
Packen hat m. E. in diesem Sinnspruch eigentliche eine gewisse Doppelbedeutung: Man packt seine 7 Sachen, belädt den Reisewagen und muss dann auch noch aufpassen, dass einen nicht noch am Ärmel nimmt und dann das Rad packt und mitreißt. Also der Tod durch Rädern in seiner schönsten Art.
Die Devise zum Überleben lautet / tönt: Ärmel hereinnehmen!
Juni 28th, 2010 at 22:28
Ich habe auch das Bild an der Maschine.
Wenn es mir den Ärmel inenimmt, komme ich doch aus der Sache (nicht nur aus der Jacke) auch nicht mehr einfach hinaus.