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Verstehen Sie das Ungesagte? — Schweizer Effizienz beim Duzis-Machen

  • Begegnung am Abend
  • Neulich lernten wir beim Abendspaziergang durch Bülach eine sehr freundliche Schweizerin kennen. Sie war mit ihrem Hund unterwegs, wie wir auch. Die Chemie stimmte auf Anhieb sowohl zwischen den Tieren als auch zwischen uns „Hündelern“. Dass man über die Liebe zum Tier miteinander ins Gespräch kommt, diese Erfahrung haben wir schon öfters machen dürfen, nicht nur in der Schweiz, auch in den Ferien in Frankreich. Aber selten konnte dann das Gesprächsthema auf dem gemeinsam fortgeführten Spazierweg so rasch ausgeweitet werden auf Familie, Reisen und andere private Dinge wie bei dieser Begegnung. Was danach folgte war eine Einladung nach Hause und der Wunsch nach weiterem Kontakt.

  • Drei Worte können viel bedeuten
  • Zum Abschied hörten wir dann einen merkwürdigen stark verkürzten Satz, bestehend aus genau drei Wörtern, eigentlich nur unseren Vornamen: „Jens – Cora – Marianne“. Betont wurde das allerdings so „Jens? — Cora? — Marianne!“ Wir hatten uns schon zuvor mit vollem Vor- und Zunamen vorgestellt und Visitenkarten ausgetauscht, aber da unserere neue Bekannte älter war als wir, blieben wir höflich bei der Sie-Form in der Anrede. Eine dritte Form wäre das uns aus dem Kanton Bern bekannte „Ihrzen“, bei dem ein cleverer Mittelweg zwischen dem distanzierten „Sie“ und dem anbiedernden „Du“ gewählt werden kann. Als mich vor vielen Jahren mein schwäbischer Fahrlehrer, den ich stets siezte, bei einem Fehler in der Fahrstunde mit den Worten anpflaumte: „Das macht Ihr immer falsch“, schaute ich mich spotan um, weil ich die anderen Fahrschüler hinter mir suchte, die er damit direkt ansprach. Doch da war niemand, ich war ganz allein mit ihm. Mit „Ihr“ meinte er nur mich, was mich verblüffte.

  • Das Gesagte im Ungesagten
  • Doch was bedeutete nun die Nennung der drei Vornamen in der Abschiedsminute? Es war ein klassisches Beispiel der Schweizer Kommunikation, bei dem das eigentlich Gesagte im Ungesagten versteckt ist, quasi in den Bindestrichen. Als wir wieder allein waren erklärte ich meiner Frau, was diese drei Namen, wie sie von Marianne genannt wurden, in vollständige Sätze übertragen, in Wahrheit bedeuteten:
    Lieber Jens, liebe Cora, es hat mich sehr gefreut euch kennenzulernen, ich gehe darum gleich zum Du über, wie es mir als Älsteste von uns dreien ansteht, und würde mich freuen, wenn ihr mich auch mit Du ansprecht. Also ich bin die Marianne“.
    So viele Wörter in dieser kurzen Reihung: „Jens — Cora — Marianne“ versteckt! Das Ungesagte will richtig verstanden und interpretiert werden in der Schweiz, denn Schweizer kommunizieren in unhörbaren Subtexten miteinander, die sie permanent verschlüsseln und entschlüsseln.

  • Zuhören und Hindenken
  • Alles ist erlaubt, bloss nicht direkt auf den Punkt kommen, stets den doppelten Konjunktiv verwenden und das Gewünschte im Nichtgesagten verstecken, das ist klassische Schweizerische Kommunikationskultur, und wir können bestätigen: Es dauert eine ganze Weile, bis man sich als zugezogener Deutscher daran gewöhnt hat und diese Subtext-Interpretation ganz beherrscht, falls das überhaupt möglich ist. Man muss nicht nur gut hinhören, sondern auch hindenken, um nichts zu übersehen. Es heisst immer, die Deutschen lieben die Ironie und werden von Schweizern dann schlecht verstanden. Andersherum lieben die Schweizer ihre Subtexte im Nichtgesagten; Schweizer Effizienz auch beim „Duzis-Machen“. Wie herrlich unkompliziert ist das in der Schweiz im Vergleich zu Deutschland. Man muss es nur verstehen.

    

    16 Responses to “Verstehen Sie das Ungesagte? — Schweizer Effizienz beim Duzis-Machen”

    1. swambo Says:

      In Norddeutschland ist das ähnlich, da heisst es „moin“ und damit ist alles gesagt, duzies inclusive…

    2. neuromat Says:

      und ich dachte zuerst „Marianne“ sei Euer Hund

    3. Rainer2401 Says:

      Oh ja, davon kann ich als Deutscher auch ein Lied singen.
      Durch das Missverstehen von subtilen Andeutungen habe ich gerade meinen Job verloren…

    4. Simone Says:

      Ich warte immer noch darauf, dass ältere mir das „Du“ anbieten, bevor ich sie duze. Wenn ich geduzt werde, duze ich auf jeden Fall zurück. Insgesamt wundert mich die Massenduzerei hierzulande. Empfinde ich doch nach wie vor das „Sie“ echlifiener….“

    5. Marcus Radisch Says:

      Hallo.

      ich habe den blog grad über xing gefunden 🙂 Durch Zufall, obwohl es keinen Zufall gibt. Ich bin kein zugezogener, aber ich versuche nach besten Kräften die Frau meines Lebens nach D zu holen 🙂 vielleicht klappts. Aber ich habe das auch kennengelernt, wenn man mit schweizern spricht, vieles musste ich da anders formulieren, da wir deutsche in den Augen einiger schweizer zu schnell zu persönlich werden. Aber inzwischen klappt das echt super und die schweizer haben einen klasse humor und das beste finde ich den Dialekt der echt Hammer. Verstehen tue ich den zu 100% aber sprechen … no comment

      Viele Grüße aus dem schönen Riesa
      Marcus Radisch

    6. Tschordi Says:

      Also irgendwie finde ich, dass hier ein wenig überinterpretiert wird. Schon in einem früheren Beitrag mit der lustigen Geschichte, wurde sehr viel Nichtgesagtes hineininterpretiert. Sicherlich zu viel.
      Zur Sache hier: Ganz ausgeschrieben hätte Marianne gesagt: “ Machen wir doch Duzis, ich bin die Marianne“. Stattdessen hat Sie einfach „Marianne“ gesagt, was die Sache auch klar macht.
      Dass es Sie gefreut hat, Euch kennenzulernen, sagt Marianne mit keinem Wort und ist auch nicht im Subtext versteckt. Es ist lediglich eure (richtige) Annahme. Kein Deutscher (und auch kein Schweizer) bestellt ein Bier mit den Worten „Ich habe Durst, deshalb will ich ein Bier“. Kein Schweizer macht Duzis, wenn er das Gegenüber nicht mag.
      Kurzum: Dass Marianne euch das Duzis anbietet, sagt eigentlich schon alles.
      Dito mit „wie es mir als Älsteste von uns dreien ansteht“. Das ist nichts anderes als der geltende Anstand in unserer Gesellschaft und sie verhält sich nichts weiter als korrekt. Kein versteckter Subtext.
      Auch dass sie sich freuen würde, wenn ihr sie duzt, sagt sie nicht. Sie bietet von sich aus das Duzis an, und das kann man eigentlich nur annehmen. Wenn man es nicht tut, dann verwendet man einen Subtext, nämlich den: „… und ich bin der Herr Wiese.“ Damit versubtextest du dies: „Ich finde dich zum *zensur*, du bist ein blö* A*.“. Das ist dann die höchste helvetische Art von Majestätsbeleidigung.

      Alles in allem finde ich die Worte von Marianne fast unschweizerisch direkt.

    7. Marroni Says:

      Ganz besonders lustig wird’s bei den Bernern. Das ist dann so eine spezial – Art des „Ihrzen“ „ Diir, weit iihr äfä loufä“ Was dann in etwa heissen würde: „Sie, willst Du schon mal vorgehen, ich komm dann gleich nach“ Phipu, bitte verbessere die Version. Übrigens: Wie machte Helmut Kohl“ Duzis „ mit Clinton? „You can say you to mee.“

    8. Tschordi Says:

      @Marroni: da hab ich auch noch einen: Mitterand und Ogi im Heli. Der stürzt ab. Sagt der Mitterand: „Nous sommes perdu“. Sagt der Ogi: „freud mi, ig bi dr döuf.“

    9. Brun(o)egg Says:

      Mir geht die Duzerei allüberall gewaltig auf den Geist. Wenns mir nicht passt Sieze ich kalt zurück.

    10. cocomere Says:

      Das von Herrn Wiese genannte „Ihrzen“ ist kein Mittelweg zwischen „Sie“ und „du“ sondern einfach die Höflichkeitsform in den Dialekten der westlichen Deutschschweiz (Kt. Solothurn, Kt. Bern, Westlicher Aargau, Luzerner Hinterland, Entlebuch, Kt. Freiburg, etc.) und wird also anstatt dem „Sie“ verwendet. Es gibt dort keine Höflichkeitsform mit „Sie“.

    11. wolfi Says:

      hm, züricher, dich würde ich gerne mal realtime erleben. glaub mir bleibt die „sprichwörtliche humorlosigkeit“ im halse stecken…

      das mit duzis ist genial in der schweiz, ganz ganz selten und wenn nur hochoffiziell, dass man „per Sie“ einem gegenübersteht.
      irgendwie viel lockerer als im dütsche.

      hey jens, schön schreibst du wieder öfters, lohnt sich das vorbeisurfen wieder……sehr schön.

      grüssli
      wolfi

    12. tobi Says:

      Ja, das habe ich auf der Landstrasse auch gerade einmal wieder erlebt. Erlaubt waren 80 und das Auto vor mir dümpelte mit 65 vor sich hin. Beim Abbiegen wurde natürlich auch nicht geblinkt.

      Ich schätze das liegt daran, dass in der Verkehrsschule „zügiges“ Fahren und der Grund, wozu es einen Blinker im Auto hat, nicht gelehrt werden. 🙂

    13. Geri us Büüli Says:

      @ ein zürcher:
      Smile wie wahr. aber noch schlimmer wirds wenn die Helvetier auf der Landstrasse in den grossen Kanton reisen und dort mit 78km/h weiterschleichen wie zuvor in CH. Manno, in D sind 100 auf Landstrassen erlaubt.. dieses nervenaufreibende Spielchen wiederholt sich tagtäglich zwischen Rafz und Neuhausen auf deutschem Gebiet.. Sowas bringt dich an den rand der Verzweiflung.

    14. neuromat Says:

      jetzt könnte man auch noch etwas voranmachen und die Gedanken der Aufklärung importieren, sich für die Ausweisung von J.-J. Rousseau entschuldigen und bei de Gelegenheit mal diese merkwürdige Treffen in Zürich zwischen Herrn H. und Herrn O. analysieren … also geht doch – weitermachen

    15. Hans-Peter Zimmermann Says:

      Blogwiese schrieb:
      Eine dritte Form wäre das uns aus dem Kanton Bern bekannte „Ihrzen“, bei dem ein cleverer Mittelweg zwischen dem distanzierten „Sie“ und dem anbiedernden „Du“ gewählt werden kann.

      HPZ (geborener Berner) berichtigt:
      Das „Ihr“ im Berndeutschen ist kein cleverer Mittelweg, sondern einfach Siezen auf Berndeutsch. Ein Berner, der beim Siezen „Sie“ sagt, war entweder zu lange in „Ausserbern“, oder er ist ein mittelmässiger Verkäufer, der den anderen Schweizern nicht zutraut, dass sie über diese Berner Eigenheit Bescheid wissen. Ist übrigens nicht nur eine Berner Eigenheit; auch die Walliser sagen „Ihr“.

    16. Allmechtna Says:

      Schön!
      Ich kenne das noch vom Schweizer Kasperli (von und mit dem wunderbaren Jörg Schneider)
      Früher dachte ich: Die reden sich ja an wie im schriftdeutschen Sprachraum im Mittelalter. (Ritterzeit bis weit in die Zeit von Eulenspiegel, Luther…)
      „Ihr“, „Euch“.
      (Heute z. T. noch auf Mittelalterfesten zu finden :))

      Dank dieses „bäumigen“ Beitrags weiss ich jetzt wenigstens auch, dass das nicht antiquiert ist, sondern noch gängig – eben nur in bestimmten Kantonen! 🙂