Ein Volk von Leseratten? — Wenn jemand „über die Bücher muss“
(reload vom 26.2.06)
Zuerst glaubten wir, die Schweizer sind ein absolut bibliophiles (=Bücher liebendes) Volk von Leseratten. Eine Ärztin sagte uns in einem Beratungsgespräch: „Da muss ich erst noch mal über die Bücher“. Wir fragten uns, warum sie so plötzlich Begeisterung für Literatur entwickelte. Dann stiessen wir bei unserer täglichen Zeitungslektüre immer häufiger auf diese Formulierung:
Pierre Marchand, Geschäftsführer beim Konkurrenten Eschenmoser, zeigt sich überrascht: „Wir müssen nochmals über die Bücher. Da gibt es einige tatsächlich happige Preisunterschiede.“
(Quelle: SonntagsZeitung 5.2.06, S. 95)
Nun, der Mann verkauft Unterhaltungselektronik und keine Romane. Wenn der „über die Bücher“ muss, dann bestimmt nicht, um seine Leselust auszuleben. Ausserdem war ja das Wörtchen „müssen“ mit im Spiel, was wir ganz und gar nicht gern im Zusammenhang mit „Lesen“ und „Bücher“ gehört haben möchten.
Wir wollen mal schauen, wer sonst noch so über die Bücher muss:
Eine humanitäre Organisation:
(…) sagt Rafael Chanchavac, nicht ohne selbstkritisch anzufügen: «Wir müssen über die Bücher und unsere politische Arbeit anpassen.»
(Quelle: guatemalanetz.ch)
Der kantonale Migrationsdienst laut der sozialistischer Wochenzeitung „Vorwärts“:
Wenn sie zu lange bleiben, statt mit uns zu kooperieren, widerspricht dies unserem
Konzept und wir müssen über die Bücher gehen.»
(Quelle: vorwaerts.ch)
Sogar ganze Staaten machen sich fleissig ans Lesen:
Schweiz und EU müssen über die Bücher
(Quelle: nzz-online)
Natürlich geht es in all diesen Beispielen nicht um schöngeistige Literatur, ums Bücher „Lesen“ sondern ums „Halten“, um die „Buchhaltung“ in der Schweiz. Das Aufstöbern von Einsparmöglichkeit beim Studium der offensichtlich immer noch papiergeführten Einnahmen- und Ausgabenverwaltung:
Google-Schweiz bringt 163 Belege für „müssen über die Bücher“.
Ein Trauerspiel in dieser Hinsicht ist der Vergleich mit Deutschland, denn Google-Deutschland kann nur 36 Belege auflisten, die alle mehr oder weniger aus der Schweiz stammen.
Was lerne wir daraus? Werde Buchhalter in der Schweiz, und Du hast stets ein sicheres Auskommen, denn hier müssen alle ständig „über die Bücher“!
Dezember 11th, 2008 at 9:31
In Deutschland würde man wohl eher „in die Bücher schauen“ sagen. Aber den Ausdruck „über die Bücher schauen“ habe ich in Deutschland in gleicher Bedeutung auch schon gehört.
Dezember 11th, 2008 at 15:06
Vielleicht geht ein Teil der SVP jetzt auch über die Bücher nach dem sackknappen Wahlresultat für den Gräser fressenden Maurer.
Hoffentlich.
Dezember 11th, 2008 at 15:40
Meine Schwägerin ist Italienerin und hat ein Hotel-Restaurant in Deutschland. Sie spricht auch öfters von den „Büchern“, an die sie sich machen muss. Irgendwie interessant. Viele Ausdrücke im Bankenwesen sind italienischen Ursprungs, wir kennen alle „Giro“, „Tratte“ usw. Vielleicht wird die Buchhaltung in den „libri“ geführt????
[Anmerkung Admin: „Die Buchhaltung machen“, oder „sich an die Bücher machen“ kenne ich auch aus der Standardsprache, einzig „nochmals über die Bücher gehen“ habe ich nur in der Schweiz gelesen und gehört]
Dezember 11th, 2008 at 19:15
Da die Eidgenossen ein einig Volk von Bauern waren/sind, ist deshalb hier im Umfeld die Lösung für den Spruch „über die Bücher gehen“ zu finden.
Der Sinninhalt dieses Spruches als schwere Kost hat seinen historischen Ursprung im mittelalterlichen-nachmittelalterlichen bäuerlichem Umfeld.
Nach der Ernte wurde damals den Kleinbauern (Hilfsbauern) erlaubt, für deren Hilfsleistungen bei der Ernte der großen Bauern „noch einmal über das abgeerntete Feld zu gehen“ und dann für sich zu „lesen“, um nochmals das liegengebliebene Korn (uam.) in einer Wiederholung der Korn- oder Früchte-Lese aufzusammeln.
Da im ersten Erntedurchgang fehlerbedingt nicht alle Ähren / Früchte gesehen, erkannt, aufgenommen und somit nicht „gelesen“ wurden, wird der zweite Durchgang, also beim „darüber gehen“, diese fehlerhafte Situation beheben, denn die Ausbeute wird dadurch merklich gesteigert.
Ein interessanter Nebenpunkt:
Diese Kleinbauern wurden als „Huber, Hueber, Hüber, usw“ bezeichnet, da sie das Korn dem Lesen „aufhuben“. Dadurch haben wir im Deutschen die vielen Hubers mit Namensbezeichnungen in recht vielen Kombinationen wie Hinterhuber, Oberh., Vorderh., Talh., Dorfh., Unterh., Eisenh. usw.
Wenn man durchs die Gebirgsregionen wackelt, kann man feststellen: Die bäuerlichen Vulgo-Namen für diese Gehöfte mit der Verbindung ….Huber…. liegen oft etwas abseits und in ungünstigeren Lagen, da sie eher den ärmeren Bauer (Klein- /Hilfsbauer) gehörten.
Aber die Urquelle des Spruches wird man natürlich bei unseren geliebten Germanen finden. Man kann feststellen: Wenn man „über die Bücher geht“ gibt es eine irgend wie gespannte Situation: Man kann sich dies auch so beim „Runenlesen“ vorstellen!
Und hier liegt m. E. die tatsächliche Quelle dieses Sinnspruches:
Wenn die Alten ihre Runen (Stäbchen, welche meist aus Buchenholz hergestellt wurden) auf den Boden geworfen haben, begann das „lesen“ der von den Altvorderen in der spirituellen Übermittlung mitgeteilten Anweisung.
Die „lesekundigen“ Schamanen / Deuter haben aus den Runen die Information nach aufheben diese „gelesen“. Wenn sie die Mitteilung nicht „begriffen“ haben, mussten sie nun „nochmals über die Runen“ gehen. Dadurch haben wir im Deutschen das Wort: „Nachlese“ erhalten!
Diese Begriffe dürfen wir jedoch nicht nur auf die heutigen Begriffe, wie z. B. Weinlese, Obstlese, Nachlese usw. beschränken.
Da die sprachlichen Grundbegriffe der Buchtechnik aus dem „religiösem“ Umfeld der germ. Alten gekommen sind (Runen= Raunen= Mitteilung aus der anderen Welt, Runen weiterentwickelt = in gew. Weise zu dem Buch!), (Buchenstäbchen= Buchstaben!), (die Runen aufhebe, also lesen, verstehen und deuten= nachlesen, d. h. aufheben, im Sinninhalt auslegen) ergibt sich nun die klare Aussage:
Wenn man was nicht richtig gemacht hat, nicht gesehen, übersehen hat, nicht aufgehoben- also nicht gelesen hat oder den Inhalt der Mitteilung nicht begriffen hat, muss man halt nochmals „über die Runen, Felder und Bücher gehen“, um es dann „richtig zu lesen“!
Womit gesagt werden kann: Wir sind eigentlich noch immer unsere eigenen Vorfahren!