Wenn die Schule ein Kapitel schreibt dann ist Schulkapitel
Wir lasen in der Fachzeitschrift für das angewandte Schweizerdeutsch der Gegenwart, dem Tages-Anzeiger:
Lehrer müssen freien Nachmittag opfern.
Schulkapitel sollen kein Grund mehr sein, den Kindern frei zu geben. Der Kantonsrat verlangt, dass sie auf die unterrichtsfreie Zeit gelegt werden.
(Quelle: Tages-Anzeiger 17.11.08 )
Grund genug, ein Kapitel aufzuschlagen und sich einmal mit dem Schulkapitel zu beschäftigen. Es gibt dafür bei Google.ch 1680 Fundstellen. Google-Deutschland hingegen erzählt uns etwas vom „Schulkapitel in den Buddenbrooks“. Kennen Sie nicht? Ein sehr lesenwerter Roman von Thomas Mann. Thema vieler Referate und Hausarbeiten, so auch dieser:
Eigentlich ist ein „Kapitel“, neben dem bekannten „Buch-Kapitel“, etwas sehr Geistliches, mit Köpfchen. Es geht auf Latein „Caput“ = das Haupt, Oberhaupt zurück, allerdings in der Verkleinerungsform. Wir lasen bei Wikipedia:
Kapitel (latein. capitulum „Köpfchen“) steht für: (…)
* eine geistliche Körperschaft, beispielsweise ein Domkapitel oder ein Stiftskapitel
* die Versammlung der stimmberechtigten Mitglieder eines Konvents oder von Mitgliedern des gesamten Ordens, siehe Ordenskapitel sowie Generalkapitel,
* Haushaltskapitel, Bestandteil eines Haushaltsplans.
(Quelle: Wikipedia)
Unser 1680 Mal bezeugtes „Schulkapitel“ wird aber nicht erwähnt. Dafür die „geistliche Körperschaft“ des Domkapitels und Stiftskapitels. Ist denn eine Schule in der Schweiz auch eine „geistliche Körperschaft“? Wahrscheinlich Überbleibsel aus der Zeit vor der Reformation, als die Schulen noch Sache der Kirchen und Klöster waren.
Ein schönes Beispiel für gelebtes Schweizerdeutsch ist auch dieses Zitat, ebenfalls aus dem Fachblatt Tages-Anzeiger:
Die Bildungsdirektion solle die Einführung der zwei zusätzlichen Handarbeitslektionen für Fünft- und Sechstklässler verschieben – das verlangt das Schulkapitel des Bezirks Pfäffikon.
(Quelle: Tages-Anzeiger 11.11.08 )
Bildungsdirektion, Handarbeitslektionen und Schulkapitel. Wir müssen angestrengt nachdenken, wie diese Dinge in Deutschland benannt würden. Was die Bildungsdirektion im Kanton Zürich leistet, dürfte im Nachbarland Baden-Württemberg Aufgabe des Kultusministeriums sein. Ein Ministerum für Kultus, und einen Beutel für Kultur, so sind die Deutschen drauf.
Die „Direktion“ kennen wir in Deutschland nur vom Zirkus oder Hotel. Es gibt zwar einen „Direktor“ an einer deutschen Schule, aber selten wird der mit einer „Direktion“ in Verbindung gebracht. Wahrscheinlich stecken da wieder die Franzosen mit ihrem „Direktorium“, dem „directoire“ aus der Revolutionszeit dahinter. Wäre nicht das erste politische Erbstück, dass die Schweiz der Französischen Revolution und dem kleinen Korsen verdankt.
November 21st, 2008 at 22:09
Lieber Kollege Jens:
Kapitel: nix Reformation, oder fast nicht. Der liberale Staat wollte nach 1830 die Volksschule als bewusstes Gegengewicht gegen die Pfarrschaft aufbauen. Lehrer und Pfarrer führen ja in der Schweiz noch heute einen Kleinkrieg: siehe Fach „Religion und Kultur“. Der Staat kopierte für die Lehrerschaft die geistlichen Institutionen.