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Boomtown Jestetten — Die Schweizer beim Einkaufen

(reload vom 24.10.05)

  • Andorra im Sackstück: Fast von der Schweiz eingekreist
  • Während eines Urlaubs in den Pyrenäen planten wir einmal einen Besuch im Zwergstaat Andorra . Wir träumten von einem gemütlichen Bummel durch ein schnuckliges Gebirgsdorf und fanden stattdessen eine hektische Geschäftsstadt vor, in der sich Supermarkt an Supermarkt reihte, mit niedrigen Preisen für Alkohol, Tabak und Kosmetik. Einen Ort wie Andorra gibt es auch unweit der Schweiz. Er heisst „Jestetten“ und liegt in einem deutschen „Sackstück“ kurz vor Schaffhausen, 36 Km von Zürich entfernt in der Verlängerung der Flughafen-Autobahn.

    Jestetten im Sackstück

  • Eine Kirche und ein Bäcker?
  • Wir entdeckten ihn auf der Landkarte, kurz nach der Ankunft in der Schweiz. Wir suchten einen grenznahen Ort zum Einkaufen, und Jestetten sah dafür ein bisschen zu klein geraten aus. Sicher gibt es hier nur eine Kirche, ein Rathaus, eine Bäckerei und zwei Gasthöfe, dachte wir und fuhren stattdessen den weiteren Weg bis nach Waldshut.

  • Boomtown Jestetten
  • Nun, später wurden wir eines Besseren belehrt: Jestetten ist Boomtown, in Jestetten geht die Post ab, in Jestetten wird richtig Geld verdient!
    Hinweisschild Downtown Jestetten

    Es gibt einen grossen Edeka:
    Edeka Neukauf Jestetten

    Einen Plus
    Plus in Jestetten

    Einen Aldi
    Grosser Aldi in Jestetten

    Wir möchten doch festhalten, dass die zahlreichen Schweizer Besucher, die hier an einem gewöhnlichen Samstagmorgen mit ihren Autos auf den Parkplätzen fotografiert wurden, nur „zufällig“ auf dem Weg von Schaffhausen nach Zürich durch diesen hübschen Ort kamen, und ganz spontan überprüfen wollten, ob das Angebot in Deutschen Supermärkten von der Qualität wirklich um so vieles schlechter als in der Schweiz ist. Alle hier abgebildeten Personen kaufen sonst nur in der Schweiz ein und würden im Leben nicht auf die Idee kommen, die Löhne und den Arbeitsmarkt in der Schweiz dadurch zu gefährden, dass sie ihre Franken in der EU ausgeben.

  • Die Bauern sind schon in der EU
  • Stichwort EU. Es gibt hier im Grenzgebiet die kuriose Situation, dass Schweizer Bauern ihren Deutschen Kollegen Land abkaufen, dies dann in Deutschland beackern, und den dort erzielten Ertrag auf dem Schweizer Markt verkaufen dürfen, zollfrei und zu sehr guten Preisen, weil staatlich subventioniert. Der Clou an der Sache ist nun, dass diese Bauern ausserdem noch Subventionen von der EU für die Bearbeitung dieser Landstücke kassieren können. Die Schweiz braucht gar nicht mehr in die EU eintreten, im Grenzgebiet klappt das auch so schon ganz gut mit dem Geldfluss. Und da wundert sich noch jemand, wenn der Ex-Finanzminister Eichel in einem Interview über die Schweiz das böse Wort „Rosinenpicker“ in den Mund nahm?

    Wohin mit dem Geld in Deutschland? Es gibt verschieden Banken zum Geldwechsel, auch am Samstag geöffnet. Ganz wichtig: Mehrere Lotto-Annahmestellen mit doppelt besetzten Kassen für die Schweizer, für das grosse Glück in der EU!
    Lotto spielen in Jestetten

  • Wer will noch einen Job bei Aldi?
  • Im Aldi von Jestetten hing vor ein paar Jahren ein Aushang: „Kassiererinnen gesucht. Gute Sozialleistungen“ etc. Ich wunderte mich darüber, warum bei hoher Arbeitslosigkeit eine Handelskette wie Aldi per Aushang nach Mitarbeiter suchen muss. Dann erfuhr ich:
    Wer hier gut ausgebildet ist und arbeiten gehen will, der geht als Grenzgänger in die Schweiz, und nicht zu Aldi an die Kasse! Von den 5.226 Einwohnern fahren täglich 630 in die Schweiz, 992 der dagebliebenen kümmern sich um die Schweizer Einkaufstouristen. Die „Nachrücker“ in diesem System sind Deutsche aus dem Osten sowie Spätaussiedler aus GUS-Ländern, die die freigewordenen Jobs in Jestetten übernehmen.

  • Kindergarten morgens und nachmittags
  • Jestetten hat 5 Kindergärten (von denen der Waldkindergarten und der Sonderschulkindergarten oft vergessen werden, siehe hier), 2 Grundschulen, eine Grund- und Hauptschule sowie eine Realschule. Wenn wir nun den Schweizer Nachbarn erzählen, dass hier Kernzeitbetreuung von 8.00 – 13.00 Uhr in der Schule, und von 8.00 – 12:00 sowie 13:30 – 16.00 Uhr im Kindergarten garantiert wird, fehlt nicht mehr viel, und sie bringen ihre Kinder dort unter. Dank der bilateralen Verträge ist der Besuch von Schweizer Kindern in Deutschen Schulen und von Deutschen Kindern in Schweizer Schulen ohne Kosten und Einschränkungen möglich, sofern die notwendigen Kenntnisse vorhanden sind.

  • Spielcasino, Bars und Sexshop
  • Den Sexshop habe ich jetzt nicht fotografiert, weil da gerade soviele reingingen und rauskamen, das war dann doch zu indiskret. Es gibt auch noch einige Bars und ein Spielcasino, für knapp 5000 Einwohner eine ganz erstaunliche Infrastruktur.
    Bar und Casino in Jestetten

  • Reifen schön schmutzig machen
  • Ein grosses Reifenhaus gibt es auch für die Schweizer.
    Reifen aus Deutschland

    Der Zoll schaut übrigens bei der Einreise immer besonders auf den Zustand der Reifen, und ob eventuell eine Reparatur in Deutschland vorgenommen wurde. Ob das Reifenhaus für diesen Zweck eine extra Schlammbehandlung anbietet, mit der man die frisch gekauften Reifen gleich schön alt und dreckig aussehen lassen kann?

  • Hier gibt es alles, ausser Benzin
  • Nicht erwähnt habe ich bisher die 2 Apotheken, die Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, den Drogeriemarkt, die Fachgeschäfte für Kinderkleidung, Mode, Schuhe, die Haushaltswarengeschäfte und Autohäuser. Das einzige, was sie in diesem erstaunlichen „Oberzentrum“ mit nur 5226 Einwohnern nicht finden werden, ist eine Tankstelle. Zum Tanken müssen Sie über die Grenze nach Schaffhausen oder Eglisau fahren, dort kommen Sie dann gleich an mehreren vorbei.

    Einkaufen in Deutschland können die Schweizer ohne Mehrwertsteuer, d. h. 19 % billiger, bis zu einem Wahrenwert von 200 CHF pro Person und Tag. Für Fleisch und Milchprodukte sowie Alkoholika gelten strenge Maximalmengen, die auch kontrolliert werden. Und noch was zum Schluss:
    Da von den Schweizern keine Mehrwertsteuer bezahlt werden müssen, hat der Deutsche Staat nichts von all den Millionen, die jährlich in diesem Ort von Schweizern ausgegeben werden. Jedenfalls nicht bei der Umsatzsteuer. Natürlich zahlen die Geschäfte Gewerbesteuer, und die dort arbeitenden Menschen ihre Einkommenssteuer.

    

    8 Responses to “Boomtown Jestetten — Die Schweizer beim Einkaufen”

    1. solanna Says:

      So ähnlich wie Dir mit Jestetten gings mir vor einigen Jahren in Helgoland.

      Da hatte ich vom „heiligen“ Postkartenalbum meiner Grossmutter von der vorletzten Jahrhundertwende her doch eine so schöne Ansichtskarte im Kopf: ein topfebenes Eiland auf roten Felsen mitten im Meer. Darunter stand der Spruch:

      Grün das Land
      Rot die Kant‘
      Weiss der Sand
      Das sind die Farben von Helgoland.

      Wie sieht das heute aus: In einiger Distanz zu Insel spuckt jede Stunde ein Schnellschiff wohl tausend Touristen in kleine, offene Fährboote aus, um diese an Land zu bringen, wo sie gleich zu gut zwei Dritteln in den ungezählten Duty-free-Shops und Fressbeizen auf dem Vorland verschwinden. Ein knappes Drittel fährt mit dem Aufzug hinauf zur unebenen Hochebene und beginnt erst dort, aber sofort, zollfrei zu shoppen und üppig zu tafeln. Eine vernachlässigbar kleine Gruppe wandert zu Fuss auf die Hochebene und geniesst auf dem Rundweg um die Insel den Aus- und Tiefblick auf die Nordsee, die „Lummenfelsen“ mit Möwen, Tölpeln und Trottellummen, die als „Charaktervögel“ der Insel gelten.

      Natürlich hat es unter den hergeschifften Tölpeln und Trotteln – äh Touristen – auch Nichtdeutsche. Aber die grossmehrheitlich 😉 Deutschen lieben die Schnäppchenjagd offensichtlich so, dass sie dafür sogar übers Meer fahren. Aufgrund der niedrigen Benzinpreise gilt Helgoland unter Sportbootkapitänen als Geheimtipp für Törns in der Deutschen Bucht, Reifen sind aber wohl nicht im Angebot. Auto- und Radfahren sind auf der Insel, die offiziell als Seebadeort gilt, verboten. Man stelle sich das Umsteigen vom kleinen Bötchen ins Schnellboot mit vier Schnäppchenreifen im Gepäck vor … Sexshops werden bei 1500 Ew. und Seebadgästen kaum fehlen. Ob ihre Dienste zollfrei sind?

      Die vollbepackten LuxusjägerInnen nutzen zwar meistens wieder den Seeweg zurück von der am weitestens vom Festland entfernten deutschen Insel. Es gibt aber auch einen kleinen Airport. Für den hats offenbar doch noch genug flaches Land.

    2. Flaneur Says:

      Mit beinahe leerem Tank als Ortsunkundiger kurz hinter Grenze in Deutschland mal eine Tankstelle suchen. Vor allem, wenn auch niemand, den du auf der Strasse fragst, eine deutsche Tankstelle kennt:

      Ein echter Nervenkitzel.

      [Anmerkung Admin: Merkwürdiger Weise findest Du auf Schweizer Seite in Grenznähe bald einen Bäcker, eine Migros oder einen Fleischer. Obwohl die billigere Alternative nur 150 Meter weiter ist. ]

    3. momidori Says:

      Hallo,
      heute habe ich einen Kommentar von einem bestimmten Spatz, wahrscheinlich von deiner japanischen Bekanntin oder Freuindin bekommen. Sie teilte mir mit, dass du auf meinem Blog einen Link zu deinem eigenen Blog gefunden hast. In der Tat habe ich vor kurzem dein Blog zufällig gefunden und ganz fasziniert sofort bei mir einem Link hergestellt.

      Ich war 9 Jahre in Stuttgart und danach ging ich in die Schweiz bzw. nach Basel. Nach 6 jährigen Aufenthalt in der kleinen netten Stadt bin ich Berlin gelandet. Aber meine Nostalgie für die Schweiz ist immer noch groß. So lese ich dein Blog regelmässig mit Begeisterung!

      Einkaufen in Deutschland habe ich auch damals in Lörrach oder St. Louis in Frankreich gemacht. Ich durfte drei verschiedene Kulturen geniessen und von jeder profitieren. Aber die Zahl der Einwohner, die täglich in die Schweiz zur Arbeit fahren ist ja verheerend.
      Das wusste ich nicht. Dann ist es vielleicht verständlich, dass die Schweizer sich langsam verunsichert fühlen….

    4. Bense Says:

      Meine Mutter wohnt auch in der Nähe Zürichs und fährt zum Einkaufen immer nach Jestetten. Ich selber sollte dort, als ich ein paar Einkäufe einholen sollte, einiges mitbringen. Ich komme aus dem Ruhrpott und bin dort nur zu Besuch hingefahren, aber durch Jestetten muss man durch. Die Jesttettener haben es aber auch wirklich sehr schlau angestellt, große Verkehrsleittafeln für ihren doch recht kleinen Ort zu platzieren. Ich hab es besser mit dem Auto dorthin gefunden als nach Zürich. Die Stadt wird irgendwann noch Millionenstadt 😀

      Erinnert irgendwie an Büsingen…

    5. Bense Says:

      Kurzer Nachtrag: Die Schweizer gehen halt in Deutschland so gern Einkaufen wie die Deutschen in der Schweiz Arbeiten oder das Sozialsystem prellen. Ich find’s ja prima, wenn so unser (das erste mal seit 150.000 Jahren) nichtdefizitäres Staatsbudget damit nicht belastet wird, und die Ossis werden wir auch noch los 😉

      Im Gegenzug bekommen wir sogar noch dicke Mehrwertsteuereinnahmen, die aber gleich wieder flöten gehen, weil die Grenzdeutschen in der Schweiz tanken… Das ist halt alles ein Geben und nehmen. Mit dem Unterschied, dass die Schweizer es sich (noch) leisten können, oft „gebend“ zu sein…

    6. Flaneur Says:

      @Bense:

      Büsingen gehört aber zum schweizerischen Zollgebiet – insofern wird’s da wohl so schnell nichts mit Millionenstadt und Einkaufsparadies.

      Und mit dicken Mehrwertsteuereinnahmen ist wohl auch nichts. Schliess kaufen die Schweizer bei ALDI und co. ja quasi mehrwertsteuerfrei, da die Mehrwertsteuer ja (zumindest zum grössten Teil) erstattet wird. Ist ja Export aus dem Zollgebiet der EU raus…

    7. Schnägge Says:

      Ohne Worte:
      http://www.welt.de/webwelt/article1177330/Blutige_Krawalle_bei_Media-Markt-Eroeffnung.html

    8. Dominique Says:

      Wahnsinn, obwohl es dort doch gar keine Ketchup-Tüten umsonst gegeben hat… 😉