Wenn der Stiefel sinnig wird — Neue Schweizer Lieblingswörter
Sagt doch neulich ein Schweizer Freund zu mir: „Du, das macht mich stiefelsinnig“. Nun weiss ich, dass viele Sachen nicht immer sinnig sondern eher unsinnig sind, dass man einen „Stiefel trinken“ kann, und davon ganz schön besoffen wird, aber diesen Sinn sinniger Weise im Stiefel zu suchen fiel mir bisher nicht ein. „Stiefelsinnig“ ist definitiv unser neues Schweizer Lieblingswort. Ziemlich alt, wie alles in der Schweiz, und schon in Grimms Wörterbuch erwähnt:
STIEFELSINNIG, adj., ‚verdrieszlich, trübsinnig‘, vgl. stiefel B 1 (sp. 2781); nur in der Schweiz, s. STALDER Schweiz 2, 398; FRIEDLI Bärndütsch 1, 112; ‚verrückt‘ HUNZIKER Aargau 254; da seufzte ein alt kudermannli und sagte … er wett, er chönnt die ganze nacht da hocke und machte ein gesicht dazu trüb- und stiefelsinnig GOTTHELF w. 1, 365 Bartels.
(Quelle: Grimms Wörterbuch)
Man beachte die wichtige Feststellung, das wir es hier offensichtlich mit geschriebenem Bärndütsch zu tun haben, aber auch für das Aargau gibt es Belege. In Schweizer Diskussionsforen geht es zum Grundwortwortschatz:
„mich macht das stiefelsinnig, wenn ich merke dass irgendetwas nicht stimmt und ich nicht an ihn herankomme“
(Quelle: gordontraning.ch)
Auch in aktuellen Blogs ist das hübsche Wort zu finden:
Die Navigation macht einem fast stiefelsinnig, und barrierefrei ist die Site auch nicht.
(Quelle: Reklame.moblog.ch)
Die Online-Ausgabe der Berner Woche, der „ebund“ verwendet es auch. Claro, ist ja auch Berndeutsch:
Die nicht mehr ganz so frischen Söhne Mannheims machen mit ihrer Musik gewordenen Nächstenliebe die minderjährigen Töchter Berns stiefelsinnig
(Quelle: ebund.ch)
Ob in diesen Textstellen irgendwo „stiefelsinnig“ mit „verdriesslich, trübsinnig“ übersetzt werden kann? Wir lesen da eher Synonyme für „verrückt“ heraus.
Ein ganz besonders stiefelsinniger Mensch muss übrigens 1919 von der Schweiz aus nach Österreich ausgewandert werden, um dort ein grosses Schuhhandelshaus zu gründen. Der Sinn ging ihm dabei verloren, aber zum König langte es allemal, flugs war die Idee zum „Stiefelkönig“ geboren. Eine erfolgreiche Idee, denn die Monarchie war in der frisch gegründeten „Republik Österreich“ nach dem 1. Weltkrieg gerade radikal abgeschafft worden. Kein „von“ oder sonstiger Adelstitel war mehr erlaubt, warum also nicht analog zum Walzerkönig einen „Stiefelkönig“ erschaffen? Macht Sinn, auch bei Stiefeln.
P. S.: Wie wir durch einen Kommentar erfuhren, ist die Schreibweise „stigelisinnig“ bei Google sogar häufiger anzutreffen als das Original, nämlich an 72 Stellen.
Juni 20th, 2007 at 0:16
Synonym von stiefelsinnig ist in der Tat „zum verrückt werden“
Juni 20th, 2007 at 4:58
Irgendwie kommt es mir vor, als hätte ich das Wort „stigelisinnig“ auch schon gebraucht? Eine Abwandlung von „stiefelsinnig“?
Wobei ich mit „stigelisinnig“ (immerhin 72 Treffer auf Google) eher „zum Verrücktwerden“ meine.
[Anmerkung: Danke für die wichtige Ergänzung! Habe verschiedene Schreibweisen getestet, aber nur noch „stiefelsenneg“ gefunden. Auf „stigel-“ wäre ich im Leben nicht gekommen. Wird Zeit mein meinen Grund- und Leistungskurs in Bärndütsch aufzufrischen… 🙂 ]
Juni 20th, 2007 at 8:44
Ich halte „stigelisinnig“ nicht für rein berndeutsch – das Wort ist auch ab Zürich ostwärts durchaus bekannt.
Aber „stiefelsinnig“ habe ich persönlich definitiv nicht im aktiven Wortschatz
Juni 20th, 2007 at 8:53
Jens isch stelle mich gerne zur Verfügung als ‚Bärndütsch Lehrere‘ 🙂
Ähnlich dem stifusinnig,gebrauchen wir auch ‚tubetänzig‘ 🙂
Juni 20th, 2007 at 9:22
Ich würde Stiefelsinnig auch eher mit „Wahnsinnig werden“ übersetzen.
Gehört eigentlich schon noch zu meinem Wortschatz.
Juni 20th, 2007 at 11:52
…ist auch im Solothurnischen gebräuchlich, aber auch hier eher mit stigelisinnig. Und ich würds auch mit ‚es ist zum verrücktwerden‘ oder mit ‚du machst mich wahnsinnig‘ übersetzen.
Viel Spass mit dem neuen Wort.
Und falls du den Dialekt-Horizont erweitern willst:
http://www.solothurn-city.ch/
Juni 20th, 2007 at 11:52
auch bei mir ist es so, dass ich „stiefelsinnig“ nicht gebrauche.
„stigelisinnig“ aber sehr wohl. (bin in der Stadt Zürich aufgewachsen)
und es bedeutet immer, zum verrücktwerden, wahnsinnig werden etc.
Juni 20th, 2007 at 12:12
Stiefelsinnig glaubte ich am Anfang des Beitrags durchaus schon gehört zu haben. Erst bei „stigelisinig/stigelisinnig“ fiel mir der Zwanziger. Das brauche ich selber häufig als Synonym zu wahnsinnig (nur in der Bedeutung von übergeschnappt, nicht als Verstärkungsausdruck).
Entweder sage ich: „es isch zum Stigelisinig-wärde (gsii)“ oder „ich bi fasch stigelisinnig worde“.
Juni 20th, 2007 at 14:09
Mal wieder kein typisch Schweizer Ausdruck, wohl eher im gesamten alemannischen Sprachraum, beheimatet. Wenn auch mit teils unterschiedlicher Aussprache.
Juni 20th, 2007 at 14:57
Stiefelsinnig gebrauche ich durchaus. Sagt man eigentlich auch noch „es isch zum Haaröl gränne“? Das bedeutete ja auch „zum verrückt werden“.
Juni 20th, 2007 at 15:11
Warum ist „Stiefel“ negativ besetzt? Man sagt beispielsweise auch „Stinkstiefel“, wenn jemand schlecht gelaunt ist.
Juni 20th, 2007 at 17:14
@Simone: Weil der Stinkstiefel genau so die Luft verpestet (bzw. die Stimmung mit seiner schlechten Laune) wie der stinkende Stiefel… 😉
Juni 20th, 2007 at 17:52
Melken Schweizer in solchen Fällen eigentlich auch Mäuse?
Juni 20th, 2007 at 19:14
@schnägge:
Nein
Juni 20th, 2007 at 20:25
@Schägge: Ne gute Frage 🙂
Statt stigelisinnig krieg ich immer hier nen „so ein seich“ zu hoeren 😉 Ansonsten wird auch gern mal „angeschossen“ 😉 (ja, ich weiss das die Uebersetzung falsch ist ;-D )
Ne Kollegin aus der Berner Gegend kannte das „stiefelsinnig“ auch, meinte aber, dass das nicht zu ihrem aktiven Wortschatz gehoeren wuerd. Aus der SG- und ZH-Ecke bekam ich nen sti(e)gelsinnig zu hoeren (hab die Kollegas heut en weng damit genervt 😉 ).
Juni 20th, 2007 at 22:25
@ Schnägge
wir schweizer melken keine mäuse. bei uns: “ das isch zum hüener sattle“ oder „das isch zum gummibärli uuspeitsche“
Juni 21st, 2007 at 2:30
@mare
Ich kenne dies nur in der weniger feinen Variante, die ich darum nur im privaten Umfeld verwende: „Es isch zum Haaröl seiche!“
Juni 21st, 2007 at 2:42
Mein lieber Jens
Ich wohne vielleicht seit 11 Jahren in Bern, aber deshalb bin ich noch lange kein Berner 🙂
Ich spreche ein Limmattaler Aargauisch mit ein paar Einschlüssen von Züritüütsch und ein paar komischen Wörtern, welche ich mir auf meinem Weg durch die Schweiz angeeignet habe.
Juni 21st, 2007 at 9:13
@mare
Bei uns in bern ist es zum Haaröl Saufen. Oder zum Mäusemelken.
Juni 21st, 2007 at 9:18
@ mare @ solar
Bei uns heisst es: es isch zum Hooröl suffe, was ja auch nicht gerade fein ist.
Juni 21st, 2007 at 12:21
Woher kommt das mit dem Haaröl saufen? Das ist mir in D noch nie begegnet, da kenne ich nur „zum Haare raufen“, das klingt ähnlich…
Phipu, wir brauchen dich…
@Nessi: „Gummibärli uuspeitsche“ 🙂
[Anmerkung Admin: Phipu ist auf fort auf Fortbildung und nicht online, er wird es sicher nachliefern]
Juni 21st, 2007 at 20:38
Haaröl saufen sagt man wohl, um das „Haaröl seiche“ etwas abzuschwächen. (Genauso, wie man manchmal von einem „schofseeleguete Mönsch“ hört.) Von wo dieses herrührt, weiss ich aber nicht.
Juni 21st, 2007 at 23:54
Das mit dem Haarölsauffen wir wohl eine Wandlung vom Haare rauffen sein. Die Bauern sagten auch Pfiiffe-Lampe-Öl als Napoleon vorbei ritt 😉
Juni 22nd, 2007 at 8:15
Nur auf Mundart heisst es „Haaröl suuffe“, „Haare raufen“ würde man auf Mundart „Haar rauffe“ aussprechen, und nicht „ruuffe“, da ist eigentlich keine Ähnlichkeit. Ich denke „Haaröl saufen, seichen, gränne = weinen“ geht eher in die Richtung „Hühner satteln“: etwas Unsinniges tun zum Beweis, wie verrückt und irre sowohl die Situation als auch man selbst ist!
Juni 22nd, 2007 at 9:14
@ retu
Sie sagten Pfiiffe-Lampe-Öl, weil sie „Vive l’empereur“ nicht aussprechen konnten. So mindestens hat es uns einst unser Lehrer erzählt.
Als Wandlung von Haare raufen sehe ich das Haaröl saufen nicht, da man ja auf Schweizerdeutsch „sufft“, aber rauft.
Juli 8th, 2007 at 11:21
Mir war bis zum vorliegenden Blogeintrag „stiefel“-sinnig unbekannt. „stiegel“-sinnig hingegen schon. Mit dieser Schreibweise habe ich bereits den Deutsch-Transkript angewendet. Als urbaner Zeitgenosse weiss ich allerdings nicht einfach so, was ein „Stiegel“ sein könnte. Zum glückt hilft Grimms Wörterbuch weiter. http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/dwb/wbgui?lemmode=lemmasearch&mode=hierarchy&textsize=600&onlist=&word=stieg&lemid=GS45647&query_start=1&totalhits=0&textword=&locpattern=&textpattern=&lemmapattern=&verspattern= (Vorrichtung zum übersteigen eines Zauns). Genau in dieser Richtung würde ich den Ausdruck auch ansiedeln. Mit Stiefeln sehe ich keinen Zusammenhang, jedoch mit dem Wunsch, vor Verzweiflung irgendwo hochzusteigen („ufe schtiige“). Das Wort „Stiege“ ist ja heute auch im Hochdeutschen noch bekannt, und im Dialekt ist „Stäge“ das Synonym schlechthin für „Treppe“. Auch Leute, die nicht „stigelisinnig“ werden, können doch mindestens „d’Wänd uuf gah“ (die Wände hoch gehen). Gibt es „da gehst du die Wände hoch“ nicht auf Deutsch auch?