Wie (be)treiben (es) denn die Deutschen? — Das Wort „Betreibung“ versteht ein Deutscher nicht
Auf der am 23.11.06 stattgefundenen SAL-Tagung „Füdliblutt oder splitternackt — Welches Deutsch brauchen wir?“ erzählte ich in einem Forum von den ersten schweizerdeutschen Wörtern, die wir als Deutsche in der Schweiz lernen durften:
Die Betreibung, jemanden betreiben, die Betreibungsauskunft, das Betreibungsamt.
Alles absolut Deutsch klingende Wörter, die nur in der Schweiz bekannt sind und verstanden werden. „Wie sagen Sie denn in Deutschland dazu, wenn jemand betrieben wird?“ fragte daraufhin eine Teilnehmerin der Tagung. Gar nicht so einfach, diese Frage zu beantworten. Wenn die aussersprachliche Wirklichkeit eine andere ist, wie in diesem Fall, dann fehlt dazu auch eine passende Bezeichnung und das passende Verb.
Natürlich gibt es auch in Deutschland Menschen, die ihre Rechnungen nicht bezahlen, und andere Menschen, die gern an ihr Geld kommen möchten. Was tun die denn dann, wenn sie keine „Betreibung“ in die Wege leiten können? Nun, sie müssen sich mit einer Klage an ein Gericht wenden. Sie müssen vor einem Richter beweisen, dass sie rechtmässigen Anspruch auf die Bezahlung einer Schuld haben. Ist alles bewiesen und konnten sie ihr Anliegen erfolgreich vor einem Richter darlegen, dann spricht dieser ein Urteil und der Gläubiger (der fest daran glaubt, bald sein Geld zu erhalten, darum heisst er so) erhält einen „Vollstreckungstitel“ oder kurz „Titel“ gegen den Beklagten.
Mit so einem Titel kann er nun beispielsweise eine Pfändung in Auftrag geben, kann einen „Gerichtsvollzieher“ beauftragen, zum Haus des Schuldigen zu gehen, und dort auf alle Wertgegenstände wie Fernseher, CD-Player etc. einen „Kuckuck“ zu kleben mit dem Hinweis, dass diese Gegenstände gepfändet sind und nicht mehr veräussert werden dürfen, bzw. in einer bestimmten Frist abgeholt und verkauft werden, um so die Schuld zu begleichen. Ausserdem kann der Gerichtsvollzieher jederzeit eine „Taschenpfändung“ beim Schuldner durchführen und eventuell vorhandenes Bargeld sofort beschlagnahmen. Auch in Deutschland gilt es also, ein paar hübsche Wörter zu lernen, wenn man per Gericht sein Geld bekommen möchte:
Das gerichtliche Mahnverfahren
Vordruckzwang: Für das gerichtliche Mahnverfahren – notwendig, um eventuell einen Vollstreckungstitel erwirken zu können, der 30 Jahre lang gilt, – besteht Vordruckzwang. Die Vordrucke erhalten Sie in Schreibwarengeschäften (meistens nur in Gerichtsnähe) oder auch im Amtsgericht. Auf diesen Vordruck müssen Sie allerdings Gebührenmarken kleben: Für einem Streitwert von 250 Euro kostet das Mahnverfahren 12,5 Euro, einschließlich Zustellungskosten (die Anwalts-Gebührenordnung verlangt für die gleiche Dienstleistung 75 Euro). Das gerichtliche Mahnverfahren gibt es auch grenzüberschreitend für alle EU-Staaten.Vollstreckungsbescheid: Wenn der Schuldner dem Mahnbescheid nicht widerspricht – dazu hat er 14 Tage Zeit – kann der Gläubiger den Vollstreckungsbescheid beantragen. Dann macht sich der Gerichtsvollzieher im Auftrag des Gläubigers auf den Weg und pfändet Möbel oder Auto eventuell auch den Taschengeldanspruch der Ehefrau (fünf Prozent vom Einkommen des Mannes). Notfalls kann es für den Schuldner mit Pfändung von Lohn- oder Gehaltsansprüchen beim Arbeitgeber auch unangenehmer werden. Letzter Schritt ist dann die Kontenpfändung
(Quelle: finanzen.fokus.de)
Soweit die Theorie. Leider hapert es bei dieser Regelung in der Praxis an vielen weiteren Regelungen, die zu beachten sind. So kann dem Schuldner sein Hab und Gut nicht gänzlich beschlagnahmt werden, und ein Mindessumme für den Lebensunterhalt muss ihm auch gelassen werden.
In Deutschland haben einmal erboste Besitzer solcher „Vollstreckungsbescheide“ die Menschen, die ihnen viel Geld schuldeten, moralisch unter Druck setzen wollen, in dem sie Studenten beauftragten, ganz in schwarz gekleidet, als Verkörperung eines „Vollstreckers“ stets in der Öffentlichkeit hinter diesem Menschen herzulaufen, als permanente Mahnung und Erinnerung: „Ich bekomme noch Geld von diesem Menschen“. Diese Art der Blossstellung in der Öffentlichkeit wurde gerichtlich untersagt, obwohl die Methode sehr erfolgreich war. Der Schuldner zahlte sehr bald seine Schulden:
Vor wenigen Jahren folgten auffällig schwarz gekleidete Herren (altmodischer Anzug, Melone, Stockschirm), eine schwarze Lady oder auch ein großer rosa Hase Schuldnern auf Schritt und Tritt. Sprach der Verfolgte sie schließlich an, überreichten sie ihm eine Karte mit der Telefonnummer eines Vermittlungsdienstes. Das Landgericht Leipzig hielt das allerdings für einen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte und Verstoß gegen die guten Sitten des Wettbewerbs (Az.: 6 O 4342/94).
(Quelle: finanzen.focus.de)
Den grossen rosa Hasen finde ich eine fast noch hübschere Idee als die schwarze Lady oder den schwarz gekleideten Herren.
(Quelle Foto: yatego.com)
Dann gibt es natürlich in Deutschland Inkasso-Unternehmen, die einem die lästige Arbeit des Schuldeneintreibens abnehmen. Im Fernsehen wird gelegentlich darüber berichtet, welche netten und gut trainierten Kampfsportler, meistens aus östlichen Staaten, von solchen Unternehmen eingesetzt werden, um morgens um 7:00 Uhr an der Türe klopfend, natürlich gleich als Truppe auftretend, beim Schuldner moralische Überzeugungsarbeit zu leisten:
Wenn der Schuldner nach 30 Tagen nicht reagiert und Sie keine Lust haben, sich lange mit der Forderung herumzuärgern, können Sie sich an ein Inkasso-Unternehmen wenden. Davon gibt es mehrere Hundert in Deutschland, die mit mehr oder weniger kreativen Methoden Außenstände eintreiben. Sie haben die Wahl, das Unternehmen zu beauftragen, Ihre Interessen zu verfolgen, Sie können ihm aber auch Ihre Forderung verkaufen: Viel gibt es dafür allerdings nicht, in der Regel 10 bis allenfalls 15 Prozent der ausstehenden Summe; manche zahlen auch noch weniger. Die meisten Unternehmen machen so etwas gar nicht. (…)
(Quelle: finanzen.focus.de)
Wie friedlich klingt da doch der Titel des «Friedensrichters », der nächst höhere Beamte nach dem Betreibungsbeamten in der Schweiz!
(Zweiter Teil morgen: Was ist eine Schufa-Auskunft?)
November 28th, 2006 at 8:23
Vielleicht eine blöde Frage,aber wie sieht eigentlich dieser Kuckuckkleber aus? Und warum sagt man dem so?
[Antwort Admin:
So sieht er aus
Hier noch ein netter Bericht, wie der Job einer Gerichtsvollzieherin in Deutschland abläuft:
Kuckuck und Kickboxen
Warum das Pfandsiegel Kuckuck heisst kannst Du hier nachlesen.]
November 28th, 2006 at 8:38
Das war auch mein erstes grosse Fragezeichen in bezug Schweiz: Noch bevor ich hier her zog und noch von Österreich aus auf Wohnungssuche war wurde mir plötzlich als Bedingung die Betreibungsauksunft genannt. Noch nie gehört was das sein könnte, verzweifelt, fast schon panisch begab ich mich auf die Suche 🙂 Naja, sowas kennen wir in Österreich nicht, weder namentlich noch inhaltlich. Für Kredite, Wohnungen etc bekommen private keine Auskunft zum finanziellen Status. Sowas können zwar Institute, öffentl.Einrichtungen und (verdeckt) auch private Firmen wie Handyanbieter abfragen (Kreditschutzverband gibt Auskunft über die kreditfähigkeit bzw laufende Belastungen).
Wie dem auch sei – habe ohne Betreibungsauskunft (da ja kein Schweizer) und nach Hinterlegung der doppelten Kaution dann doch die Wohnung erhalten 🙂 Gott sei Dank!
Peter
November 28th, 2006 at 8:59
DANKE Jens!! Schon wieder was gelernt!
November 28th, 2006 at 9:30
Hi
PurzelJens 😉Das die Inkassounternehmen besser laufen als die Vollstreckungsbescheide wundert mich gar nicht. Die Tricks, damit nichts vollstreckt werden kann, die teils angewendet werden sind kaum zu toppen.
Der Vollständigkeit halber solltest du noch was zur Eidesstattlichen Versicherung schreiben 😉
So ein Inkasso kann auch Spass machen, zum Beispiel wenn man im Auftrag einen A8 vom Besitzer zum Eigentümer durch halb Deutschland fahren muss 😉
November 28th, 2006 at 14:13
„Wie sagen Sie denn in Deutschland dazu, wenn jemand betrieben wird?“
Ganz einfach: Es läuft ein (gerichtliches) Mahnverfahren gegen XYZ.
November 28th, 2006 at 14:40
@Frank:
Das wäre je nach Situation falsch. Denn die Besonderheit des Schweizer Betreibungsverfahrens im Vergleich zum deutschen Recht ist ja gerade, dass es sich quasi um ein Vollstreckungsverfahren ohne Titel handelt. Zwar kann man vielleicht nebeneinanderstellen:
* Betreibungsbegehren – Antrag auf Mahnbescheid
* Rechtsvorschlag – Widerspruch
Aber dann geht es eben auseinander. Wird kein Rechtsvorschlag erhoben, kann man in CH ein Fortsetzungsbegehren stellen, und dieses ist eben nicht mit dem Antrag auf Vollstreckungsbescheid nach deutschen Recht zu vergleichen. Hier beginnt dann schon die Zwangsvollstreckung, welche man in D erst nach Erhalt des Vollstreckungsbescheides (möglichst ohne dass gegen diesen Einspruch erhoben wird) in einem neuen, separaten Verfahren beantragen kann.
Dafür hat man mit einem bestandskräftigen Vollstreckungsbescheid auch einen vollwertigen Titel für die nächsten 30 Jahre, während man in CH allenfalls erneute Fortsetzungsbegehren stellen kann (und auf den Kosten sitzenbleibt und die Zinsen verliert).
Also kurz gesagt: Die Antwort wäre unter Umständen auch „es wird gegen jemanden vollstreckt“.