Direkte Demokratie JA, direkte Kommunikation NEIN
Eine der merkwürdigsten Eigenschaften von Schweizern, an die wir uns auch nach sechs Jahren „Leben im anderen Kulturkreis“ nur schwer gewöhnen können, ist die Angewohnheit, jeder Art von direkter Kommunikation und Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen und wichtige wie unwichtige Dinge lieber per „Zettel-Proklamation“ zu diskutieren. Das beste Beispiel hierfür ist die viel zitierte gemeinsam genutzte Waschküche und die Waschküchenschlüsselübergabe-Ordnung oder -Einteilung, über die Hugo Loetscher ein feines Büchlein schrieb.
Wir haben in einem früher Beitrag über die Schweizer Waschküche berichtet, dass es sich gehört, auf dem Weg in die Waschküche stets einen Haufen Zettel nebst Heftzwecken und einem guten, wasserfesten Stift dabei zu haben, um an der dort üblichen Kommunikation teilzuhaben.
Per Zettel im Hausflur werden Sie in der Schweiz informiert, wenn etwas nicht in Ordnung ist, per Zettel wird man Ihnen, natürlich anonym, mitteilen, was man über sie denkt und sich nicht direkt zu sagen traut. Da sind die Schweizer sonst grosse Meister der direkten Demokratie, jeder sagt in zum Teil in offenen Abstimmungen auf dem Markplatz per Handzeichen seine Meinung, wenn es aber ans direkte miteinander reden geht, dann wird lieber zu Zetteln gegriffen.
Passiert es nur uns, weil wir hier als Deutsche in einer fremden Sprachgemeinschaft leben, dass vielleicht die direkte Kommunikation mit uns gescheut wird? Oder ist das etwas, von dem auch Schweizer berichten können? Vor Jahren hatten wir einen Kollegen, der zwar stets höflich Hochdeutsch mit uns sprach, mit allen anderen Schweizerdeutsch (Typ Ausgrenzer), die direkte Diskussion über kritische Punkte mit uns jedoch stets vermied.
Wir haben mit den Jahren den Eindruck bekommen, dass es in der Schweiz aus Gründen der Höflichkeit kaum möglich ist, jemanden offen seine Meinung zu sagen, und man darum lieber stets den indirekten Kommunikationsweg, z. B. via Zettel im Aushang, wählt. Eigentlich schade, denn dass die Schweizer tüchtig streiten können, wenn sie unter sich sind, sehen wir doch jeden Freitagabend bei Arena auf SF1.
Eine Ursache dafür, dass man in der Schweiz eher betont vorsichtig miteinander umgeht, meinen wir gefunden zu haben: Da das Land und seine Wirtschaft so klein ist, muss sollte man sich stets davor hüten, irgendwo „Leichen im Keller“ zu haben, mit Leuten im „Clinch“ auseinanderzugehen. Eigentlich eine Paradoxie, denn „to clinch“ heisst „sich umklammern beim Boxen“. Man hängt also fest aneinander, und kann gar nicht auseinander gehen bis der Boxrichter die Kontrahenten trennt.
Die „informellen Kreise und Drähte“ der Schweizer durchziehen alle Lebensbereiche, Firmen und Branchen. Der alte Spruch, dass jeder mit jedem auf der Welt über maximal 6 Personen bekannt ist lässt sich in der Schweiz sicherlich auf max. 1-2 Zwischenpersonen reduzieren. Darum werden hier bei Bewerbungen die persönlichen Empfehlungen und Beurteilungen von früheren Arbeitgeber auch viel genauer gelesen und höher in die Bewertung mit eingebunden als in Deutschland. Wehe Ihnen, da ist ein schwarzes Loch in Ihrem Lebenslauf, es muss sofort vermessen werden, und zwar sehr genau und gründlich!
Auch Kadervermittlungen, wie sich die „Headhunter“ in der Schweiz nennen, kennen sich untereinander und teilen sich Informationen über unliebsame Kandidaten gegenseitig mit. Die Branche schützt sich so nach aussen, sofern das überhaupt so „informell“ abläuft und nicht sowieso auf alte Bekanntschaften aus der Militär- oder Studienzeiten beruht.
Da hilft nur eins. Ändern sie öfters mal Ihren Namen! Oder die E-Mail oder Anschrift, was natürlich einen Umzug erforderlich macht. Kaum sind Sie im Nachbarkanton, kennt sie kein Mensch mehr. Neues Betreibungsamt, neues Glück.
Umziehen sollten Sie allerdings gar niemals nicht, wenn Sie vorhaben, eines Tages das Schweizer Bürgerrecht zu erwerben. Eine gewisse „Sesshaftigkeit“, sagen wir so ca. 12 Jahre am gleichen Ort, wird da schon erwartet:
Wer sich im ordentlichen Verfahren in der Schweiz einbürgern lässt, braucht eine Einbürgerungsbewilligung des Bundes. Der Bewerber muss hiezu folgende Voraussetzungen erfüllen:
12 Jahre Wohnsitz in der Schweiz (die zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr in der Schweiz verbrachten Jahre werden doppelt gerechnet);
(Quelle: bfm.admin.ch)
„Hiezu“ fanden wir tatsächlich so geschrieben als Wort auf der admin.ch Seite. Ist das nun Schweizer Schriftdeutsch oder einfach nur ein Schreibfehler? Wir hielten es bisher für ein Dorf in Japan. Siehe „Hiezu„.
November 22nd, 2006 at 7:55
Diese Kommunikation hier ist doch eigentlich auch Zettelkommunikation…? Hiezu noch einen Eintrag aus dem Duden: hie|zu → hie-] (südd., österr., sonst veraltet): → hierzu: ♦ was ich h. denke (Chamisso, … Mehr Information kostet auf xipolis.net mehr Geld, und da die Schweizer nicht nur die Zettelkommunikation, sondern auch das Geld pflegen, belasse ich es bei den ersten 12 Wörtern. Wir sind hier also in Süddeutschland oder Österreich.
November 22nd, 2006 at 9:56
Ein harmonisches Zusammenleben anstreben – what’s wrong with that?
Besonders in einem kleinen Land wo vier verschiedene Volksgruppen leben und die Auslanderquote bei 20 Prozent liegt.
P.S. Ein Pinnwand in der Wohnküche (und auch im Badzimmer) wäre keine schlechte Idee, oder 🙂
November 22nd, 2006 at 10:01
„Hiezu“ findet man auch gehäuft im österr.Juristen- und Beamtendeutsch. Ist somit sicher kein Tippfehler. Vielleicht hat den Text auf admin.ch ein verkappt arbeitender österr.Spion geschrieben (weil ja die Schweiz derart interessant und SICHER vom Heeresnachrichtendienst, Abwehramt oder der Staatspolizei ausspioniert wird).
Peter
November 22nd, 2006 at 10:36
Das „Hie“ aus „Hiezu“ findet sich auch in Begriffen wie „hie und da“ und „hiesig“, scheint also nicht wirklich ganz ungebräuchlich zu sein…
😉
November 22nd, 2006 at 10:49
Die Website von Hiezu ist einfach geil – http://www.hiezu.jp
So verspielt und süss machen das eben nur Asiaten, oder?
Ich hab mich jetzt mal „Anderer Peter“ genannt, damit wir nicht verwechselt werden, gell Peter?
Grüße Peter
November 22nd, 2006 at 10:50
Ich glaube nicht, dass Jens da anders behandelt wird als die anderen Nachbarn. Es stimmt, dass häufig der direkten Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen wird, um mindestens den Anschein von Frieden aufrechtzuerhalten.
Die Zettelwirtschaft hat aber auch noch einen anderen Grund: Wenn ich nicht weiss, wer der NachbarInnen was gemacht hat, ist dies die Methode um alle zu erreichen.
So verschwand zB. mal ein Wäschestück aus dem Trocknungsraum. Nachdem ich einen Zettel geschrieben habe, lag das Teil sofort wieder dort. Vorteil: Es musste sich niemand outen, dass er/sie die eigene Wäsche nicht von fremder unterscheiden kann….
Übrigens benutzen wir in unserem Haus noch eine echte Pinne, um die Zettel dranzuhängen.
November 22nd, 2006 at 11:37
@Peter
nö – kein Spion. Teilweise stammen Gesetzestexte ja noch aus den 20er Jahren und wurden nur sachte den geänderten Sprachgepflogenheiten angepasst. (Dass da auch sonst noch jede Menge Schrott drin ist, sei nur am Rand erwähnt, aber da sind wir ja nicht die einzigen: http://www.dumblaws.com/)
Aber das mit den Spionen stimmt natürlich, man denke nur an all die Touristen, die alljährlich fremde Kulturen ausspionieren gehen. 😉
November 22nd, 2006 at 11:39
Und wo genau steht da dass man 12 Jahre am gleichen Ort wohnen muss?
November 22nd, 2006 at 12:17
@mäsi
Wohnen und Klappe halten, was sonst.
Sich im Wesentlichen selbst zügeln ohne zu zügeln.
November 22nd, 2006 at 16:19
@Mäsi
Wohnen muss man nicht 12 Jahre am gleichen Ort, nur in der Schweiz. Dann muss man mindestens 5 Jahre im gleichen Kanton wohnen und mindesten 3 Jahre in der Gemeinde, in der man sich einbuergern lassen moechte. Dann darf man ein Gesuch stellen.
November 22nd, 2006 at 19:19
Ich persönlich halte nicht soviel von dieser halte nicht allzuviel von dieser indirekten Kommunikation. Ich sage in er Regel einigermaßen direkt was ich von ewas oder von jemanden halte. Zugegebenermaßen ist das nicht immer die höflichste Metode, aber es hat den Vorteil das die Sache ist vom Tisch ist und man kann wieder friedlich seine Wege gehen, ohne ständig das Gefühl zu haben das da noch etwas im Busch wäre.
Ich kann natürlich auch die zartbesaiteten Menschen aus dem „anderen Kulturkreis“ verstehen. Es ist halt nicht jeder dazu geboren offene Kritik einzustecken ohne dabei in Tränen auszubrechen oder Angst um einen zukünftigen Arbeitsplatz zu haben. Oder wie man bei uns zu so jemanden sagen würde: Weichei!
*duck und weg*
November 22nd, 2006 at 20:51
Vielleicht sind Schweizer manchmal zu harmoniesüchtig, dafür werde ich hier in Deutschland für meinen Geschmack entschieden zu oft angeschnauzt. Jeder entscheide selbst, was er lieber mag.
November 22nd, 2006 at 22:07
Hugo Lötschers Buch ist schon ziemlich alt. Das Prinzip dieser Abwarts-Kommunikation hat sich nicht geändert; hingegen das Vokabular. Vor Jahrzehnten war es noch üblich, fern aller Teutonismen, die „Heftzwecke“ ausschliesslich „Reissnägel“ zu nennen, und mit denen Zettel an das „Anschlagbrett“ statt an die „Pinnwand“ zu „hängen“ statt „pinnen“.
Noch eine Bemerkung zur direkten Demokratie.
Entgegen des vor allem von Ausländern hochstilisierten Bildes der Landsgemeinde (Anlass, wo auf dem Dorfplatz mit Handerheben abgestimmt wird), ist es mit der modernen direkten Demokratie überhaupt nicht mehr nötig, seine Meinung öffentlich zu machen. Man kann sehr diskret per Post abstimmen. Die Minderheit, die sich wirklich für Politik engagiert, tut hingegen seine Meinung schon lange vor dem Abstimmungssonntag kund. (Eben, auch die wenigen, die es bis in die Sendung „Arena“ schaffen)
„Reden ist Silber, schweigen ist Gold“ … und wenn man doch etwas loswerden will, schreibt man halt. Dies als Kompromiss zum Sprichwort.
Einen wichtigen Vorteil hat Schreiben gegenüber direktem Ansprechen schon:
Man braucht nicht zu überlegen, ob wohl eine günstige Zeit ist, die anderen (z.B. ein Dutzend Mitmieter mit der Frage: „Entschuldigung, haben vielleicht Sie versehentlich meine gelben Socken mitgenommen? Nicht, na, dann nichts für ungut.“) zu erreichen, oder ob es höflich ist, um diese Tageszeit schon /noch zu stören. Einen Zettel schreiben kann ich auch um 4 Uhr morgens.
Ich sehe das in unserem Mietshaus. Da wohnen viele Doppelverdiener (also fast nie jemand da) und solche mit unregelmässigen Arbeitsschichten (ausschlafen/früh zu Bett gehen).
Das Erreich-/Stör-Prinzip gilt sinngemäss auch für E-Mails/SMS im Gegensatz zum Telefonanruf.
November 22nd, 2006 at 22:40
Man darf nicht vergessen, dass diese Zettelwirtschaft auch ihre Vorteile hat:
Transparenz, jeder darf mitlesen. So werden Neuigkeiten von allgemeinem Interesse publiziert, die Urteile des Zettelgerichts werden öffentlich angeschlagen und gelesen.
Dazu kommt – in einem Land wo wie überall die Gerichte zuwenig zu tun haben – der grosse Vorteil in der Beweissicherung. Einen Zettel vergisst man nicht, ein Zettel ist sogar eine Urkunde, wenn er etwas beweisen darf.
Zudem – und das ist jetzt noch ein versöhnlicher Schluss – darf auch darauf verwiesen sein, welche unglaublich kreativen und poetischen Möglichkeiten die Symbiose von Mitteilung, Farbe und Papier haben kann….wer kennt das Lied über die Zettel von Reinhard Mey…mir kommen die Rührungstränen.
November 22nd, 2006 at 23:18
Es heisst ja auch nicht „im Clinch auseinandergehen“, sondern „miteinander im Clinch liegen“ – womit dann die Verbindung zum Boxen wieder hergestellt wäre.
November 24th, 2006 at 15:50
So viele Leute, die die Zettelkommunikation verteidigen? Das erstaunt mich. Ich finde sie nämlich auch furchtbar (ausser in gewissen Ausnahmefällen, s. züpf). Die Zettel werden meist auch viel böser verstanden als sie gemeint sind- von wegen Harmonie etc. Mir hat mal eine Nachbarin eine Karte geschrieben (immerhin nicht anonym!), ich solle den Trockner/Tumbler doch bitte mit einem Pinsel reinigen. Nach derm ersten Lachanfall war ich sauer und dachte, die spinnt doch. Ich habe dann bei ihr geklingelt, und ein persönliches Gespräch hat die Sache geklärt. (Wir haben uns darauf geeinigt, dass alte und junge Menschen unterschiedliche Massstäbe haben und jeder ein bisschen Rücksicht nimmt)
Von wegen Einbürgerung: Wie lange man in einer Gemeinde gewohnt haben muss, damit man eingebürgert wird, ist von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich. In der Stadt Zürich sind es zwei Jahre. Ich kenne das Verfahren aus eigener Erfahrung.
November 28th, 2006 at 21:48
Mich ärgert die Zettelkommunikation auch, vor allem wenn übertrieben wird. Wir hatten mal eine Nachbarin, die immer gleich zum Hauswart oder zur Verwaltung gerannt ist, damit die einen hochoffiziellen laminierten A4-Zettel in die Waschküche hängt oder per Rundbrief an die Waschküchenregeln erinnert. Dabei war im Falle eines „Verstosses“ gegen selbige (meist irgendwelche Details) schnell rauszukriegen, wer verantwortlich war. Wäre also kein Problem gewesen, die Sache persönlich zu klären. Aber dann hätte man vielleicht Widerspruch hinnehmen müssen…