Kunst im Alltag — Die Bülacher Henkel-Skulptur
Fast täglich gingen wir an ihr achtlos vorbei, ohne sie in unserer Ignoranz und oberflächlichen Wahrnehmung zu erkennen: Die einzigartige Bülacher Henkel-Skulptur am Busbahnhof.
Es handelt sich um ein ca 2 Meter hohes Kunstobjekt aus verschiedenen Materialien, vorwiegend metallischer Art, wahrscheinlich gegossenes Eisen, als „clin d’oeil“ des Künstlers an die ehemaliger Eisengiesser-Metropole Bülach, deren Kulturzentrum heute noch den Namen „GUSS 81-80“ trägt.
Das Objekt besticht durch seine, der Neuen Sachlichkeit und dem italienischen Futurismus entsprungenen konzeptionelle Symmetrie und Formschönheit. Unten eine schlichte kubische Rundform, darüber das doppelte Dach, erst spitz, dann abgerundet, bis hin zu einer neckischen Ausformung ganz an der Spitze, die an die prallen weiblichen Formen einer Nicki de St. Phalle gemahnt.
Die intendierte Aussage des werkschaffenden Künstlers ist klar: Sein Meisterwerk liefert uns Halt. Halt, mehr noch: „Rückhalt“ in dieser unruhigen, hektischen Zeit, die von ruhelosen Menschen geprägt ist, welche permanent unterwegs sind. Darum auch die clevere Positionierung dieses Meisterwerkes in der exponierten Lage am Schnittpunkt Busbahnhof und SBB-Bahnhof in Bülach!
Halt liefert sie uns ganz profan durch die beiden Griffe, praktisch links und rechts appliziert, mit kleinen Reliefverzierungen liebevoll ausgeführt. So können gleich zwei Menschen gleichzeitig zueinander UND Halt „in der Kunst“ bzw. „an der Kunst“ finden.
Wir danken dem Stifter dieses Meisterwerks, der SBB Kreisdirektion III, die uns durch eine wohl platzierte Tafel über die Herkunft des Kunstwerkes aufklärt:
Der Stadt Bülach
zur Eröffnung des erweiterten Bahnhofes
und der Doppelspur Niederglatt – Bülach
am 1. Juni 1980
gestiftet von der SBB, Kreisdirektion III, Zürich
Oder sind wir hier ein weiteres Mal dem Vexierspiel des Künstler erlegen, der uns mit dieser chiffrierten Botschaft klandestin in die „Doppelspur“ seine Werks einführen möchte? Ist die Direktion des Kreises mit der magischen III in Wirklichkeit ein Hinweis auf die Trinität, die Dreieinigkeit, das kölsche Dreigestirn?
Ist der „erweiterte Bahnhof“ in realitas ein Symbol für unser „erweitertes Bewusstsein“ und seine Empfangsbereitschaft, wie sie sonst nur bei Besuchern eines Bahnhofes zu finden ist?
Wir lassen die Frage bewusst offen und verweilen staunend. Den Mund machen wir aber wieder zu, damit keine Fliegen hineinfliegen.
P.S.: Es gibt schon Plagiate dieses Meisterwerks! Billige Kopien, wahrscheinlich in Fernost angefertigt, die in Vorgärten von Bachenbülach und anderswo gesichtet wurden. Lassen Sie sich nicht beirren, nur das Original trägt die rot-weisse Widmungsplakette und ist am bewusst gewählten Standort Busbahnhof zu besichtigen.
Führungen zum Objekt bei jeder Witterung auf Anfrage.
Juli 19th, 2006 at 1:51
Da kommt mir als ehemaliger Kreis III – Stift schon fast das Augenwasser.
Funktioniert die „Abläute“ noch?
Gucken, ob das Ding richtig befestigt ist und dann einen kräftigen Tritt der Fusssohle auf die Mitte des „Ständers“… sollte, wenn die Glocke noch aufgezogen ist, mit dem Schlagen der Glocke quittiert werden…
Übernehme aber keine Haftung, falls dann der pensionierte Bahnhofvorstand mit der Abfahrbefehl-Kelle den Zug suchen kommt 😉
Juli 19th, 2006 at 11:58
Urs, eine „Abläute“? Jens, was ist das? Offensichtlich was eisenbahnerisches! Hab mich sehr gefreut. Allerdings gibt es sicher noch viel mehr Kunstwerke in der Welt, die nur noch nicht angemessen kritisiert (im Sinne, der Kunstkritik unterworfen) wurden.
Beispiele:
http://www.flickr.com/photos/22974998@N00/123649369/
oder
sogar aus der Schweiz
http://www.flickr.com/photos/rieggi/97660047/
Hab mich sehr amüsiert!
Juli 19th, 2006 at 11:59
Ähnliche, z.T. noch funktionierende Kunstobjekte stehen auch in Deutschland an Bahnhöfen herum. Das Exemplar im Link würde ich, wäre ich Künstler, als akustische Litfasssäule dekorieren. So könnte ich „erst noch“ von den Werbeeinahmen profitieren. Da bräuchte ich keine (unterdessen wegrationalisierte) Kreisdirektion der Bahn mehr als Sponsor. http://www.bemo-modellbahn.de/Neuheiten_2005/6580_000/6580_000.htm
Übrigens, jetzt, da alle so sehr unter den hohen Ölpreisen leiden – dass einige sogar „clin d’oeil“ wie britisches Öl schreiben – ist es interessant zu wissen, dass diese Abläuteglocke zu ihren „Lebzeiten“ mechanisch funktionierte, und alle paar Stunden mit einer Kurbel aufgezogen werden musste. Muskelkraft ist ja bekanntlich eine erneuerbare Energie.
Juli 19th, 2006 at 12:12
@phipu
danke für den hinweis.. sah ja sowas von bescheuert aus mit ohne e, fand ich richtig „stossend“, kam aber nicht drauf was da fehlt.
Juli 19th, 2006 at 13:22
an MaxH (und vielleicht noch andere)
Weisst du wirklich nicht, was das ist? Dann gehe mal ins Graubünden zur RhB. Wenn ich mich nicht täusche hat es z.B. in Ilanz noch solche funktionierende Abläute-Glocken.
Vereinfacht erklärt: wenn der Zug auf der Nachbarstation abfährt, läutet diese Glocke – Fachwortschatz CH: „der Zug läutet ab“. (je eine Glocke pro Richtung, mit verschiedenen Tönen) Damit weiss der Angestellte auf dem Bahnhof, dass er jetzt das Einfahrsignal (und aus welcher Richtung) für den entsprechenden Zug auf Fahrt stellen soll.
Auch modernere Stellwerksysteme haben – zusammen mit optischen Anzeigen – solche akustischen Einrichtungen integriert. Sei es, wie eine Haustürklingel schellend oder dingdongend, oder als Computer-Pieps.
Juli 19th, 2006 at 13:49
@Phipu
In der Schweiz schellt es fast nur bei Privatbahnen, am Brünig oder an Nebenlinien im ehemaligen Kreis II, ev auch I…
Ich habe mich beim Einkauf in einem bekannten Computer-Shop in Littau letzthin fürchterlich erschreckt, als ich am Bahnhof wartend und lesend etwa drei Meter von der Schelle entfernt sass. Der Bahnhof ist zwar nicht mehr bedient, aber die Schelle ist nicht abgestellt.
Sonst gab es bei den SBB die Abläute-Glocken, die man gefälligst im Frühdienst, auf viel befahrenen Linien auch tagsüber wieder mit der Kurbel aufziehen musste.
Ging es vergessen, gab es dann öfters mal Züge, welche vor dem Einfahrsignal standen und Verspätungsminuten akkumulierten… Mindestens solange, bis die Lokpfeife den Sous-Chef aus den Träumen riss.
Juli 19th, 2006 at 18:17
Jaja, das waen noch Zeiten. Ich selbst war höchstpersönlich als 13 jähriger Knirps bei dieser Eröffnung der Zweiten Bahnlinie (Doppelspur) dabei. Als Kuriosum hatte Höri eine eigens für die Eröffnung zusammengezimmerte Haltestelle aus Holz. Da hielten dann die Dampfzüge zwischen Bülach-Höri-Niederglatt. Es gibt sogar eine eigens zu diesem Anlass herausgegebene Fest- Zeitschrift. Diese sollte heutzutags auch eine Rarität sein und als Kultur eingestuft werden.
Vor diesem Umbau des Bahnhofs und der Strecke nach Zürich waren eben diese Abläute- Glocken in Betrieb. Auf der Seite nach Winterthur standen sie eben noch ein paar Jahre länger. Die Abläute beim Busbahnhof soll als Denkmal an diese vergangene Zeit erinnern.
Juli 19th, 2006 at 21:07
Jens,
Der Begriff der „kubischen Rundform“ in Deinen kunstwissenschaftlichen Ausführungen hat es mir besonders angetan, erinnert er doch unweigerlich an die Quadratur des Kreises und davon abgeleitet an eine Kugelwerdung des Würfels alias Sphärogenese des Kubus oder so ähnlich…
Also ein Wirklichkeit gewordenes Ding der Unmöglichkeit, o Wunder!
Juli 19th, 2006 at 22:11
Lieber Jens,
ich bewundere schon seit langem Deine kusthistorischen Kenntnisse: wo bleibt der rote Punkt der Malerei in der Plastik?
Gruß Peter