Nicht pöbeln sondern pröbeln — Wenn der Verurteilte seine Probezeit erlebt
Der „Pöbel“ ist, wie der Lateiner weiss, das Überbleibsel von lat „populus“:
Pöbel, der; -s [(unter Einfluss von frz. peuple) mhd. bovel, povel = Volk, Leute von afrz. pueble, poblo von lat. populus = Volk(smenge)] (abwertend): ungebildete, unkultivierte, in der Masse gewaltbereite Menschen [der gesellschaftlichen Unterschicht]
(Quelle: duden.de)
An diesen „Pöbel“ mussten wir unweigerlich denken, als wir zum ersten Mal in der Schweiz das hübsche Wörtchen „pröbeln“ lasen. Ist es etwas, das der Pöbel tut? Vielleicht eine Variante zu „herumpöbeln“:
pöbeln sw. V.; hat (ugs.): jemanden. durch freche, beleidigende Äußerungen provozieren:
(Quelle: duden.de)
Weit gefehlt! Es handelt sich vielmehr um eine geniale Wortschöpfung der Schweizer, mit der die langatmige Formulierung: „etwas ausprobieren“ kurz und präzise zum Ausdruck gebracht werden kann. Passend zum „Pröbchen“, der kleinen Probe, gibt es immer was zum „pröbeln“ in der Schweiz. Handelt es sich hierbei um Wein oder Käse, sprechen die Schweizer allerdings lieber von der „Dégustation“, die „erst noch“ gratuite sein muss, also umsonst. Später wird es dann teuer, wenn man nach dem fünften Probierglas Rotwein alle Hemmungen fallen lässt und unbeschwert den Bestellschein des Weinhändlers auszufüllen beginnt.
pröbeln (sw. V.; hat) (schweiz.): allerlei [erfolglose] Versuche anstellen: unser Nachbar pröbelt jetzt mit Elektromotoren; Während der Bub mit seinem Schwert herumpröbelt, pröbelt er ein wenig mit den Spiegeln (Geiser, Fieber 113).
(Quelle: Duden.de)
Bezogen auf das Wortfeld „Probe“ erfahren wir aus dem Variantenwörter noch ein paar weitere markante Unterschiede:
Die „Probe“ wird in der Schweiz nicht nur für eine Chorprobe oder Theaterprobe verwendet, sondern kommt auch als Klausur, Klassenarbeit oder Schularbeit daher:
Zum ungetrübten Ärger fast aller Lehrer waren sie gezwungen, uns nach jeder Probe eine Fünf oder Sechs zu notieren
(Quelle: Schädelin: Mein Name ist Eugen, Seite 60)
Die zitierte Quelle ist ein äusserst bekanntes Jungendbuch, das in der Schweiz Kultstatus hat, im Sommer 2004 genial verfilmt wurde und als einer der erfolgreichsten Schweizerdeutschen Filme überhaupt in die Geschichte einging. Link zum Film hier.
Deutsche Leser müssen an dieser Stelle noch wissen, dass die Schweizer Schulnoten von 6 bis 1 absteigend vergeben werden. Die Sechs und die Fünf sind in der Schweiz die besten Noten, während sie in Deutschland als schlechteste Noten gelten.
Die „Lehrproben“, die in Deutschland die Referendare während ihrer Ausbildung haufenweise abgeben müssen, heissen in der Schweiz passend „Probelektionen“. In Deutschland würde das allerhöchstens als erste kostenlose Unterrichtsstunde in einer Fahrschule oder in einem Tanzkurs aufgefasst.
Die „Probezeit“ wird in Deutschland nur für die ersten 3 Monate eines Arbeitsverhältnisses geltend gemacht, während sie in der Schweiz als „Bewährungsfrist“ bei einer bedingten Verurteilung gilt:
Das Gericht entschied sich für eine Strafe von drei Monaten Gefängnis auf eine Probezeit von drei Jahren.
Quelle: NLZ 24.08.01, Internet; CH, nach Variantenwörterbuch S. 592
So können die einfachsten Formulierungen schon zu grossen Missverständnissen zwischen Deutschen und Schweizern führen. Aber mitunter sind die Verwirrungen und Zweideutigkeiten auch direkt in der Deutschen Sprache verankert. So lernt der türkische Held des Romans „Selim oder die Gabe der Rede“, von Sten Nadolny, im Laufe der Geschichte während seines Aufenthalts als Gastarbeiter in Deutschland zwar immer besser Deutsch, ist aber völlig verwirrt bei dem Satz: „Der tut nix“. Wird dieser über einen Hund geäussert, bedeutet er etwas sehr Gutes. Auf einen Lehrling in einer Lehrwerkstatt bezogen jedoch etwas sehr Negatives.
Mai 21st, 2006 at 11:03
Also, eine „Dégustation“, die „gratuite“ sein soll, habe ich in der Deutschschweiz noch nicht angetroffen; nur eine „Gratisdegustation“ (also ohne accent aigu), abäär vielleischt schreibt Jens ja, seitdem er des entrevues en français gibt, ausch nur nosch frangsösisch?
Und die „Probe“ als Prüfung in der Schule ist jedenfalls in der östlichen Schweiz nicht üblich; das ist Berner Hochdeutsch (der Verfasser, Klaus Schädelin war Berner).
Eine „Probezeit“ schließlich gibt es auch am Anfang des „Gymi“, wenn im ersten Quartal die SchülerInnen beweisen müssen, dass sie dem Unterricht folgen können.
Mai 21st, 2006 at 13:04
Wie funktioniert denn die Umrechnung der Noten? So, wie ich das verstehe, kann eine grobe Umrechnung folgedermassen geschehen:
Sehr gut ~ 6 ~ 1
Gut ~ 5 ~ 2
Befriedigend ~ 4.5 ~ 3
Ausreichend ~ 4 ~ 4
Mangelhaft ~ 3 ~ 5
Schlecht ~ 2 ~ 6
Zur Differenzierung der Notenwerte im Bereich „sehr gut“ bis „ausreichend“ stehen in CH 3 Notenwerte, in D 4 Notenwerte zur Verfügung. Ob die CH-5 der D-2 entspricht, bin ich mir nicht sicher. Ist die CH-5 vielleicht eher eine D-2.5?
Da ich hier Probelektionen (und auch normale Lektionen) gebe, mir aber die emotionale Bedeutung der Notenwerte für die Schüler nicht immer klar ist und ich die Schüler natürlich nicht mit ungerechten Noten überfahren will, bin ich schon länger auf der Suche nach einer guten Notenwerteübersetzung. Was sagen denn Deine Töchter dazu, Jens?
Mai 21st, 2006 at 13:29
@Basil
Die Note 6 ist in Deutschland mit „ungenügend“ umschrieben, nicht mit schlecht.
Beim Abitur wird ein 15 Punkte-System verwendet. Die Noten werden jeweils in drei Teilnoten zerlegt.
15 =1+
14 =1 Sehr gut
13 =1-
12 =2+
11 =2 Gut
10 =2-
9 =3+
8 =3 Befriedigend
7 =3-
6 =4+
5 =4 Ausreichend
4 =4-
3 = 5+
2 = 5 Mangelhaft
1 = 5-
0 = 6 Ungenügend
Damit ein Kurs als „Bestanden“ gelten kann, braucht es mindestens 4 Punkte. Im Kurssystem werden diese Punkte dann addiert und auch auf dem mehrseitigen Abiturszeugnis ausgewiesen. Am Ende gibt es eine Endnote als Deziamlzahl: 1.0 bzw 0.9 ist die beste
Note, 2.5 oder 3.2 sind andere Beispielnoten.
Eine gute Abit-Note braucht es vor allem bei Numerus Clausus Fächern, die oft bei 2.0 aufwärts anfangen.
Gruss, Jens
Mai 21st, 2006 at 13:50
Vielen Dank für die Vorstellung des 15-Punkte-Systems des Abiturs. In welche Zeilen würdest Du die CH-Noten 6, 5 und 4 in das Abisystem einschreiben? Speziell die CH-5: Sind das 10 oder 11 Punkte? Ich nehme an, dass die CH-6 14 Punkten und die CH-4 5 Punkten entspricht.
Mai 21st, 2006 at 14:21
@Basil
ich denke nicht, dass sich das irgendwie deckungsgleich abbilden lässt. Ich weiss ja nicht mal mehr, ob die Kultusministerkonferenz in Deutschland in den letzten 20 Jahren dieses Punkte System nicht schon wieder abgeschafft hat. Beim Kurssystem gab es fast jedes Jahr eine Neuerung, was erlaubt ist und was nicht, welche Kurse Pflicht sind, ob Mathe nur als ein Kurs eingebracht werden muss in die Abi-Wertung, ob ein oder zwei Fremdsprachen notwendig sind, wie lange Deutsch Pflicht ist etc. etc.
An diesem System wurde soviel herum reformiert, da braucht ein Gymnasiallehrer in Deutschland jedes zweite Jahr eine Fortbildung. Jetzt ist das Abitur in 8 Jahren da, d. h. nur noch bis zur 12. Klasse den ganzen Stoff, die Oberstufe ist damit ein Jahr kürzer geworden. Kein Mensch weiss, ob die das wirklich auf Dauer durchhalten. Die Schüler, die jetzt an Deutschen Gymnasien damit anfangen, sind jedenfalls ziemlich am fluchen über den total vollgepackten Stundenplan etc.
Gruss, Jens
Mai 21st, 2006 at 17:07
Ich habe mein Abi damals in 12 Jahren (also bis zur 12. Klasse) gemacht, denke aber nicht, dass die Belastung zu hoch ist oder so. Vielmehr war es so (zumindest zu der Zeit), dass in Bundesländern mit 13 Jahren Abitur die 11. Klasse im Vergleich zu den Klassen davor und danach relativ lax war und eher zur Orientierung diente, während es bei uns gleich straff weiter ging. Interessanterweise wurden in fast allen Bundesländern das Abitur erst auf 13 Jahre hochgeschraubt (ausser Bayern und MeckPomm) um nach ein paar Jahren wieder auf die 12 Jahre zurückgeschraubt zu werden. Mein Jahrgang war damals auch der letzte, der noch Noten von 1 bis 6 bekam, die nachfolgenden hatten dann das Punktesystem.
Ich glaube in Deutschland wird nirgendwo so viel rumprobiert (und nirgendwo ändern sich Dinge so schnell) wie im Bildungssystem. Das ist leider nicht immer ein Vorteil…
Mai 24th, 2006 at 19:16
„Und die “Probe” als Prüfung in der Schule ist jedenfalls in der östlichen Schweiz nicht üblich; das ist Berner Hochdeutsch.“
Im Kanton Bern nennt man eine Klassenarbeit „e Prob“, z.B. „Mir hei hüt a Franzprob.“
Das Schweizer Notensystem (wobei es da früher -natürlich- auch kantonale Unterschiede gab, im einen Kanton war 6 die beste, in einem anderen die 1) soll ja auch dafür verantwortlich sein, dass Einstein heute noch von unsorgfältigen Biographen als schlechter Schüler, dem erst später der Knopf(!) aufging, dargestellt wird.
„Dass Einstein allgemein ein schlechter Schüler war, ist hingegen ein bloßes Gerücht. Es beruht auf Einsteins erstem Biografen, der das Benotungssystem der Schweiz mit dem Deutschlands verwechselte: In Deutschland gilt die Eins als beste Note, in der Schweiz die Sechs. “
http://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Einstein
Interessantes auch hier:
http://www2.t-online.ch/dyn/c/10/91/93/1091934.html