Zeit haben oder nicht — Henn Si Ziit?
Neulich war ich zu Fuss in der Altstadt von Bülach unterwegs, die man auch mit dem Auto befahren darf, allerdings nur mit 10 KM/h, also ich einer alten Dame mit einem sogenannten „Rollator“, auch „Gehwagen“ oder „Walker“ genannt, begegnete, so voll bepackt mit Einkaufstüten, dass sie dieses Teil kaum mehr schieben konnte.
(Quelle Foto: Joern Van Selow joernvanselow.de)
Während mir noch durch den Sinn ging, dass ich dieser Frau doch eigentlich helfen könnte, ihre Einkaufstaschen nach Hause zu tragen und gerade ansetzen wollte, ihr diese Unterstützung anzutragen, schaut sie mich geradeheraus an und fragte mich:
„Henn Si Ziit?“
Bevor jetzt der Streit über die korrekte Verschriftung beginnt: es kann auch „Han Si Ziit“ oder „Henn Si z´Zit“ gewesen sein, so fit bin ich nicht in der Verschriftung von gehörtem Schweizerdeutsch. Jedenfalls strahle ich sie an und sage: „Ja, grad das wollte ich auch sagen“, als sie mit deutlicher Kopfbewegung auf meine Armbanduhr verweist: Ob ich die Zeit habe, also ihr sagen kann, wie spät es ist.
Also doch kein Robin-Hood-mässiger Einsatz gefordert, keine tägliche gute Tat der Pfadi ( bei denen ich im Übrigen nie war, denn die waren katholisch, da ging man nicht hin in meiner Kindheit), sondern lediglich eine Auskunft. Ich sagte ihr die Uhrzeit und liess sie mit ihrem Rollator weiterziehen, ohne helfende Hand.
Was war hier schief gelaufen in der unserer Kommunikation? Hatte ich da vielleicht einen Artikel überhört: „Henn Si d’Ziit“? = „Haben sie DIE Zeit?“ Fast 10 Jahre in der Schweiz und man kann mich noch nicht einmal einfach nach der Uhrzeit fragen, ohne dass ich das gleich missverstehe. Tragisch. Die Zeit habe ich übrigens. Liegt jeden Donnerstag im Milchflaschenfach unseres Briefkastens.
Mai 27th, 2010 at 17:00
„s Zit“ – „es Zit“ das war früher auch die Bezeichnung für eine Uhr. Im westlichen Landesteil der deutschsprachigen Schweiz hiess es auch „Gellerettli“ = „Quelle heure est-il?“
Mai 28th, 2010 at 7:31
Die Diskussion um die Verschriftung des „haben Sie …“ ist eröffnet. In Basel wäre es tatsächlich „hän“ oder „hänn“. In Zürich ist es eher „händ“ (immerhin hast du nicht das Substantiv „Hände“ verstanden, das tönt nämlich gleich). Eine Ostschweizerin sagt hingegen „hend“.
Schade, reicht die Romandie nicht bis nach Bülach. Dann hättest du dank der beiden unterschiedlichen Wörter für „Zeit“ sofort klar verstanden, worum es geht. „Avez-vous l’heure?“ (d’Ziit) tönt doch gleich ganz anders als „Avez-vous du temps?“ (Ziit). Dann wäre die Frau auch an einem „Wandler“ unterwegs gewesen (wörtliche Übersetzung von „déambulateur“ = Rollator).
Von einer älteren Dame ist übrigens auch die Variante mit „Händ Sii es Ziit?“ (sächlicher Artikel) nicht vollständig auszuschliessen. Das käme in die Nähe der vermeintlichen Verschriftung von „z’Ziit“ (oder je nach Dialekt „s’Ziit“ oder „ds Ziit“). „S’Ziit“ (das Zeit) bzw. „es Ziit“ (ein Zeit) bedeutet nämlich in einem eher altmodischen Dialektgebrauch „die Uhr“. Die Kopfbewegung in Richtung der tatsächlich entdeckten Armbanduhr in der Schilderung widerspricht aber dieser Annahme.
Siehe folgendes Volkslied: http://urnaesch-ar.ch/MR/LIED/s'Guggerzytli.pdf
Man verstehe hier „Die Kuckucksuhr“.
Auch hier wäre die welsche Variante verwechslungsfreier gewesen (une horloge = [Turm-/Wand-]Uhr, une pendule [Wand-/Zimmer-]Uhr, une montre [Armband-]Uhr).
Aber zum Trost über dieses Missverständnis will ich hier noch anmerken, dass diese Fragen meistens mit deutlich unterschiedlichen Sätzen gestellt werden. Z.B. „Händ Sii en Momänt / föif Minute / rasch /churz Ziit?“ (typisches Beispiel dafür ist das Telemarketing) gegenüber „Chönnd Sii mer d’Ziit säge / chönnd Sie mer säge, was für Ziit isch?“ und „Händ Sie en Uhr?“. In vierzig Jahren wird die Frage nach der Uhrzeit sowieso ausgestorben sein. Da werden auch betagteste Senioren geistesgegenwärtig ihr Natel zücken, bevor sie jemanden fragen.
Zuvorkommend ist Jens Hood übrigens auch, dass er auf die entsprechende Frage sogar die aktuelle Zeit mitteilt. „Ja“ wäre auch schon eine korrekte Antwort gewesen.
Mai 29th, 2010 at 4:39
Die verschriftung, (für mich als zweisprachiger deutschschweizer eine sagenhafte creation), mundart ist ein äusserst glatter parket.
Hier eine weitere variante zum obigen thema
Als berner frage ich:
was isch für zyt. =(wieviel uhr ist es)
oder
heit dr zyt / hesch zyt =(haben sie zeit / hasst du zeit.
Anmerkung Wenn ein berner jemanden mit „dir“ anspricht ist das höflichkeitsform und bedeutet „sie“. Es hat also nichts mit dutzen zu tun.
Soweit mein „exkurs“
Matty_357
Mai 29th, 2010 at 21:27
Wiedermal ein gelunger Artikel!
Nur eine kleine Anmerkung: Pfadi ist nicht katholisch, sondern reformiert!
Mai 30th, 2010 at 11:53
http://www.kpe.de/cms/index.php
Juni 10th, 2010 at 22:39
Die Pfadfinder gibts mit beiden Konfessionen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Pfadfinder#Deutschland