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Aufstossen, stossen und die Tür nicht drücken

(reload vom 18.3.06)

  • Aufstossen, stossen und die Tür nicht drücken
  • In der Schweiz werden bekanntlich nicht die Türen gedrückt, sondern die liebsten Verwandten, oder die Fussgänger an der Ampel: „Fussgänger bitte drücken“.
    Fussgänger drücken

    Türen hingegen muss man stossen, ohne sich dabei das Knie oder ein anderes Körperteil zu verletzten. „Sich stossen“ ist in Deutschland immer ein schmerzhafter Prozess. In der Schweiz ist das noch schlimmer, denn da können die Dinge selbst zurück stossen. Das tun sie nämlich immer dann, wenn sie „stossend“ sind.

    Besonders stossend finden sie, wenn auch Bauherren, die ausdrücklich ohne Auto leben wollen, zum Parkplatzbau gezwungen werden.
    (Quelle: Tages-Anzeiger)

    Stossend
    (Quelle Tages-Anzeiger vom 22.02.06)

    Oder hier:

    Für den VCS besonders stossend:
    (Quelle)

    Die SP-Fraktion erachtet es als besonders stossend, dass nach der Vernehmlassung nochmals wesentliche Verschlechterungen eingebracht wurden,
    (Quelle: sp-sh.ch)

    Speziell die Kombination „besonders stossend“ findet sich bei Google-Schweiz 2’113 Mal
    Und wieder fragen wir uns: Wie kamen wir eigentlich bisher im Standarddeutschen ohne dieses Wort aus? Was haben wir an seiner Stelle geäussert? Der Duden hilft weiter:

    sto|ssend (Adj.) (schweiz.):
    Anstoß, Unwillen erregend, das Gerechtigkeitsempfinden verletzend
    :
    dass mit diesem Bundesbeschluss die -en Einkommensunterschiede in der schweizerischen Landwirtschaft etwas gemildert werden können (NZZ 23. 12. 83, 23); Eine Verurteilung hätte sich deshalb zwar rechtfertigen lassen, … doch wäre sie im Ergebnis stossend gewesen (NZZ 3. 2. 83, 29).

    Das kleine kurze elegante Wort „stossend“ kann in Deutschland nur umständlich mit „Anstoss erregend“ oder „Unwillen erregend“ übersetzt werden. Ist doch irgendwie erregend das alles, oder nicht?

    Das muss an der schmerzhaften Konotation liegen, die „stossen“ und „stossend“ bei uns Deutschen auslöst. Höchstens noch „aufstossen“, wenn das Baby ein „Bäuerchen“ macht (ich wette für dieses Wort haben wir in der Schweiz sechs verschiedene Dialekt-Varianten!), oder wenn wir zu schnell und zu viel Bier auf einmal getrunken haben. In Deutschland pflegt man die dabei entstehenden Geräusche zu kommentieren mit: „Das war der Landfunk, es sprach die Sau“ und zur Tagesordnung (nicht zum Traktandum) überzugehen.

    

    21 Responses to “Aufstossen, stossen und die Tür nicht drücken”

    1. alex Says:

      Entschuldigung: ich stoße mich gerade an der Schreibweise – lange Vokale und Umlaute erfordern ein „ß“, kurze hingegen ein „ss“. Das ist, was ich mir wirklich gemerkt habe bei der Aktualisierung meiner Rechtschreibkenntnisse: dass es z.B. Straße heißen muss…

    2. Simone Says:

      Wäre interessant zu erfahren, mit welcher Wucht eine Tür „gestossen“ werden soll. Wenn „stossen“ derart negativ besetzt ist, wird die Tür nicht lange halten.

    3. Bea Says:

      @ alex: in der Schweiz gibt es kein „ß“, wir schreiben immer zwei normale s
      @ simon: wir stossen die Türen auf, stossen allein ist in der Tat etwas seltsam
      @ Jens-Rainer Wiese: ich finde Ihre Blogweise herrlich und auch für mich als Schweizerin enorm lehrreich und so richtig zum Schmunzeln. ich werde gerne immer mal wieder vorbeischauen :-)))
      und –> “ Bäuerchen machen“ heisst in meinem ZH-Dialekt: “ görpse“

    4. Martin Says:

      @alex: „ß“ gibt es in der Schweiz nicht. Nur „ss“.

    5. Reply Says:

      „… und zur Tagesordnung (nicht zum Traktandum) überzugehen.“ Google fragt hier: meinten Sie: „um zur Tagesordnung (nicht zum Traktandum) überzugehen.“ LG

    6. Guggeere Says:

      «Das war der Landfunk, es sprach die Sau.» – Das ist ja grauenhaft ordinär; richtig stossend! Das Biertischniveau ist in Deutschland also etwa gleich hoch wie in der Schweiz.
      «Stossend» gilt bei uns eigentlich als gehobenes Schriftdeutsch und hat (wenigstens für mich) einen leicht snobistischen Touch. In der Mundart verwendet man es eher nicht (wie überhaupt allgemein das Partizip Präsens). Es sei denn, jemand wolle zeigen, wie distinguiert und gebüldet er ist.

      @ Alex
      ß gibts in der Schweiz schon lange nicht mehr. Endlich ein Rechtschreibeproblem, das es nur in Deutschland gibt. Hierzulande vermisst niemand diesen überflüssigen Buchstaben. Es sei denn, jemand wolle zeigen, wie… (siehe oben).

    7. alex Says:

      …kein „ß“, okay. Aber Guggeere, die Pünktchen kann ich nicht deuten.

    8. carlito Says:

      ich verstehe , dass in deutschland die buchstabenkombination: SS immer zu missverständnissen führt…..

    9. solanna Says:

      Fragen über Fragen:

      „Stossend“ oder „sich an etwas stossen“ im Sinne von „ungerecht findend“ sagen wir im Schweizerdeutschen kaum. Ich denke, je nach Situation verwendet man „ungerächt“ oder „fies“. Letzteres empfinde ich aber als neueres standarddeutsches Lehnwort im Dialekt, aber eine Alternative bzw. wie man früher das ausdrückte, fällt mir nicht ein. Kann jemand helfen?

      Eine Türe „aufstossen“ enthält einen gewissen Kraftaufwand, während „schieben“ doch wie auf Seife ganz ohne Kraft geht. Jedenfalls bei Türen. Sagt man in Deutschland bei einer schweren Türe tatsächlich „Bitte schieben!“?

      Auch ich kenne aus verschiedenen Dialekten nur „görpse“ für „rülpsen“ und den „Görps“ für den Rülpser“. Gibt es in der Schweiz Varianten dazu? Ich meine echte, altmundartliche, nicht das witzige „Ärpsli mit Rülpsli“ (abgeleitet vom ewigen Bequemgemüse aus der Dose „Erbsli mit Rüebli“).

      Betreffend Scharf-S habe ich jetzt meines Wissens erstmals eine Regel gelesen, wann Scharf- und wann Doppel-S.
      Das Scharf-S, dieses komische B, ist bei uns etwas derart Nichtexistentes, dass es auch in 12-jähriger Schulbildung höchstens mal in einem Nebensatz erwähnt wird. Bei deutscher Lektüre ist man es passiv immerhin so gewohnt ist, dass es als Schriftzeichen kaum auffällt. Weiss jemand, bis wann es das Scharf-S in der Schweiz gab?

      [Anmerkung Admin: Nein, man sagt in Deutschland „Drücken“, nicht „Stossen“ bei Türen, und man findet etwas nicht „stossend“, sondern sehr umständlich „Anstoss erregend“]

    10. Guggeere Says:

      @ Alex
      Punkto Pünktli: «Siehe oben» = letzter Satz, 2. Abschnitt meines Beitrags.
      (Wollte nicht zweimal den gleichen Satz schreiben; war aber keine gute Idee. Tschuldigung.)

      @ Solanna
      Ich empfinde «fies» auch als Import, es passt aber gut in die Mundart. Ansonsten kenne ich noch gemein, hinderrüggslig, uuveschämt, secklig, dreckig, falsch, lätz gfäderet, er isch en falsche Chaib, en Drecksiech, en Seckel, en Schlawiner (…jetzt muss ich aufhören, sonst komme ich noch grundlos ins Schimpfen).

    11. cocomere Says:

      „Und wieder fragen wir uns: Wie kamen wir eigentlich bisher im Standarddeutschen ohne dieses Wort aus?“

      „Stossend“ ist Standarddeutsch! Sonst würde es ja nicht im Duden stehen, oder? Die Frage ist wohl eher: „Wie kommt man in Deutschland ohne dieses Wort aus?“

      [Anmerkung Admin:
      Wenn wir uns bei dem Begriff „Standarddeutsch“ darauf einigen, dass damit die Teilmenge aller möglichen deutschen Varianten gemeint ist, die in jedem Teil von Österreich, Deutschland, der Schweiz, Südtirol und Südbelgien verstanden wird, dann wage zu bezweifeln, dass „stossend“ hier Standarddeutsch ist. Hingegen halte ich „eine Sache erregt Anstoss“ oder ist „Anstoss erregend“ für Standard, und „stossend“ für eine in der Schweiz und wahrscheinlich auch in andern südlichen Teilen des deutschen Sprauchraums gebräuchliche Variante. Im Duden werden solche Varianten meist mit „regional“ oder „schweiz.“ gekennzeichnet. Doch darin war der Duden noch nie sehr gut, das Variantenwörterbuch aus de Gruyter Verlag hat das besser gelöst.

      Aber du hast dennoch recht bei der Frage, wie man in Deutschland ohne dieses Wort nur auskommen kann. Es ist wunderbar griffig und verdient eine Aufnahme in die Standardsprache, nur geht das nicht per Volksentscheid. Der Gebrauch entscheidet. („Entscheid“ ist übrigens die Schweizer Variante für „Entscheidung“)]

    12. solanna Says:

      @Guggeere

      Die von Dir vorgeschlagenen Alternativausdrücke kenne ich natürlich alle (bis auf secklig als Adjektiv) auch, aber sie wären wohl in der Gesprächssituation, in der man standarddeutsch „(besonders) stossend“ verwendet, nicht passend.

    13. Simone Says:

      @Solanna:
      Wie lange das scharfe S in der Schweiz benutzt wurde, kann ich leider nicht beantworten. Aber die Grundregel, zu der es (leider) jede Menge Ausnahmen gibt ist folgende (nicht zitiert, sondern frei nach Simone).
      Das scharfe S, auch sz genannt, steht nach einem langen Vokal, wie z. B. Stoß (denn es heißt ja Stoooooooooooß). Doppel-S steht nach einem kurzen Vokal wie z.B. Kuss (das u wird ganz kurz gesprochen).
      Paradoxerweise dauert ein Kuss länger als ein Stoß (sofern wir jugendfrei bleiben und die Tür meinen), dennoch endet der deutsch-deutsche Stoß mit dem scharfen S.

    14. cocomere Says:

      Ich finde, dass Standarddeutsch das Deutsch ist, welches im Duden steht. Jeder muss ab und zu mal ein Wort nachschlagen. Denn wenn man mit Schnittmengen beginnt, dann kann man auch sagen, dass ein Holzfäller und ein Bundesbeamter wahrscheinlich auch nicht die selben Wörter der Standardsprache verstehen und verwenden, was den Wortschatz nochmals senkt. Und dann bleibt schliesslich noch ein Vokabular von 2000-4000 Wörter, was dann etwa den Grundwortschatz von Langenscheidt für Fremdsprachige ergibt. Das finde ich dann auch etwas zu mickrig für eine Standardsprache.

    15. ali Says:

      @ Jens:
      Wieso, in Deutschland gibt es doch das schöne Wörtchen „störend“? Das finde ich genauso treffend wie stossend/stoßend.

    16. Simone Says:

      @cocomere:
      Es gibt nicht „das“ (im einheitlichen Sinne) Standarddeutsch. Wie bereits erklärt wurde, gibt der Duden Auskunft über den geographischen Gebrauch eines Wortes. Wenn man sich vor Augen hält, dass eigentlich von jedem Schüler erwartet wird, dass er einen Duden zu Hause hat, wird auch klar, dass eben selbiger nicht alle Varianten abbilden kann.

    17. Guggeere Says:

      @ Simone, Solanna

      Echte Ausnahmen von der neuen ß-Regel gibts nicht.*

      Zitat aus Duden 9, Richtiges und gutes Deutsch, «Die s-Laute im Antiquasatz (Lateinschrift)», 1.1.2.: «Stimmloses s wird als alleiniger Konsonant nach langem Vokal und nach Diphthong ß geschrieben:
      Maß, Gruß, Spaß, fließen, außer, reißen, Blöße, Schöße.»
      Ein Problem ist allenfalls die regional unterschiedliche Aussprache gewisser Wörter (z.B. sage ich in aufgrund meiner Mundart eindeutig «Spass» anstatt«Spaass» wie auf Standarddeutsch).

      * Bestimmt beweist mir irgendein Linguist oder sonst ein ß-Ayatollah jetzt dann gleich das Gegenteil…

    18. cocomere Says:

      @simone:
      Und genau deshalb ist der Duden etwa das Standarddeutsch, denn wenn ich mich an den Duden halte, dann werde ich von allen verstanden, schliesslich hat jeder die Möglichkeit, meine (auch regionalgefärbten) Ausdrücke nachzuschlagen (und sie auch zu finden).

    19. Simone Says:

      @cocomere:
      Klar, man findet die gängigen regionalen Ausdrücke, aber wie es beispielsweise in Deutschland aussieht, wenn ein Schüler von der zuoberst aufgeführten Bedeutung abweicht und dann z.b. Schweizerdeutsch schreibt, weiss ich nicht.
      @Guggeere:
      Wie sieht es in D-Deutsch mit „wissen – ich weiss“, bzw. das T-Shirt ist weiss aus? Ich sitze gerade an einer CH-Tastatur und habe das scharfe S nicht. Und bei „wissen“ und „weiss“ liege ich immer daneben…

    20. Guggeere Says:

      «Wissen» hat ein kurzes i, also immer mit ss schreiben. «Weiss» (ob nun als Farbadjektiv oder Verbform) enthält den Diphthong -ei- und wird deshalb gemäss der Regel in Deutschland mit ß geschrieben.
      Im Word-Programm (als Beispiel) findest du das ß unter «Einfügen-Symbol». Die Tastenbelegung kannst du selber nach deinen Bedürfnissen ändern. Auf diesem PC tippe ich es zurzeit mit shift-alt-s, brauche es aber so gut wie nie.

    21. cocomere Says:

      @Simone:
      Schweizerdeutsch ist ja keine Schriftsprache und auch kein Standart. Das muss ja wirklich niemand lernen zu schreiben.
      Aber neben Schreiben gibt es auch Lesen und Verstehen. Und das ist der passive Wortschatz. Da darf man auch von einem Deutschen Schüler erwarten, dass sie ein paar regionalgefärbte Standarddeutsch-Ausdrücke kennenlernt, ohne sie danach zu benutzen. Wir mussten (durften…) Plentzdorf lesen (der wohl ein Berlin gefärbtes Standarddeutsch schrieb), Deutsche lesen Dürrematt.
      Und so sieht man dann auch bei Dürrenmatts Uraufführung in Romulus der Grosse. Dürrenmatt schrieb, dass der Kaiser das Morgenessen verlangt. Da hat der Darsteller protestiert und gesagt, es heisse Frühstück. Dürrenmatt schrieb die Szene um. So verlangte danach der Kaiser immer noch nach dem Morgenessen. Der Hofzeremoniemeister jedoch korrigierte: „Exzellent, es heisst Frühstück“. Da macht Romulus klar: „Was klassisches Latein ist in diesem Haus, bestimme ich.“