Ist „Minne“ eigentlich ein „altertümelndes“ Wort? Für den Duden ja. Für den Tages-Anzeiger nein.
(reload vom 11.3.06)
Wir lasen im Tages-Anzeiger vom 24.02.06 auf Seite 2 einen Artikel zu einer damals anstehenden Abstimmung. Thema: Bundesrat, Parlament und die Kantone warben gemeinsam für den „Bildungsraum Schweiz“. Der Artikel war überschrieben mit
In Minne für Schul-Harmonisierung
Die Minne ist bekannt aus der „Minne-Lyrik“, den Liebesgedichten zur Zeit des Mittelhochdeutschen, zur Zeit der Dichter „Walther von der Vogelweide“, „Hartmann von Aue“ und „Gottfried von Strassburg“:
Minne ist eine spezifisch mittelalterliche Vorstellung von gegenseitiger gesellschaftlicher Verpflichtung, ehrendem Angedenken und Liebe, die die adlige Feudalkultur des Hochmittelalters prägte.
(Quelle: Wiki)
Der Sprachstand dieser Literatur ist dem modernen „Höchst-Alemanisch“, dem Schweizerdeutschen also, erhalten geblieben:
Hôchzit statt Hochzeit,
muot statt Mut,
Lîb statt Leib,
frouwe statt Frau
sind nur einige Beispiele dafür.
Die Minne, die hier der Tages-Anzeigers zitiert, wird sogar im Duden erwähnt:
Mi.n|ne, die; – [mhd. minne, ahd. minna, eigtl. = (liebevolles) Gedenken]:
1. (im MA.) verehrende, dienende Liebe eines höfischen Ritters zu einer meist verheirateten, höher gestellten Frau:
die hohe M. (höfischer Dienst als Ausdruck sublimierter, vergeistigter Liebe für die verehrte Frau als Leitideal der höfischen Erziehung); die niedere M. (Befriedigung des Geschlechtstriebs; sinnlicher Genuss).
2. (altertümelnd) Liebe (1 b):
man verzeiht sich, alles in Minne, man lächelt, man scherzt (Frisch, Cruz 84).
(Quelle: Duden.de)
Das Zitat unter 2. ist von Max Frisch, neben Dürrenmatt und Gottfried Keller der bekannteste Schweizer Schriftsteller. Folglich ist diese Variante von „Minne“ für das Wort „Liebe“ in der Schweiz noch üblich. Von wegen „altertümelnd“, wie kommt die Duden-Redaktion nur wieder zu dieser Einschätzung? Der Tages-Anzeiger ist eine moderne überregionale Tageszeitung, die würde doch nicht auf „altertümelndes“ Vokabular zurückgreifen!
Vergessen wir kurz den Duden und greifen wir zum „Variantenwörterbuch des Deutschen“, dort wird uns das Wort ohne Wertung erklärt:
Minne: in Minne
CH „In gegenseitigem Einvernehmen, ohne Streit, in Frieden“: Der Abend endete in Minne und mir brachte er sogar eine Riesenüberraschung. Das Substantiv Minne in der Bedeutung „höfische Liebe im Mittelalter“ ist gemeindt.
(Quelle: Variantenwörterbuch S. 504)
Schon gemein, dieses Deutsch, dieses „gemeindeutsch“, Minne aufs Mittelalter zu beschränken. Unser neues Wörterbuch hat Recht. Die Kombination „in Minne“ findet sich bei Google-Schweiz 1’220 Mal, darunter auch die Weltwoche:
Schwerer dürfte es der Schweizer Delegation fallen, die innenpolitisch umstrittenen Probleme in Minne zu lösen, vor allem bei der unumgänglichen Meldepflicht für Waffen.
(Quelle: Weltwoche.ch)
Zurück zur Minne und zum Mittelhochdeutschen. Das folgende Kurzgedicht ist einer Tegernseer Handschrift vom Ende des 12. Jahrhunderts entnommen. Es beschließt den lateinischen Brief einer Frau an einen Kleriker:
Dû bist mîn, ich bin dîn.
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen
in mînem herzen;
verlorn ist das sluzzelîn:
dû muost ouch immer darinne sîn.
(Quelle: literaturnische.de)
Schweizer Leser haben beim Verständnis sicher keine Probleme. Deutschen Lesern empfehle ich den Studiengang „Mittelhochdeutsch“ an jeder gut sortierten Deutschen Philologischen Fakultät (=Universität) zu besuchen, auf Magister oder Diplom möglich, auch für ein Lehramtsstudium wird er angerechnet. Wem das zu anstrengend ist, der lese einfach fleissig den Tages-Anzeiger oder ziehe direkt in die Schweiz. Das erspart manches Mittelhochdeutsch-Seminar. Na denn, verbleiben wir in Minne?
Januar 22nd, 2009 at 12:01
Ist eigentlich einfach: Minne = Übereinstimmung. Schönes Wort!
Januar 22nd, 2009 at 13:24
Passt zwar nicht hundertprozentig grade heute hierher, trotzdem ein Ausschnitt aus der heutigen Solothurner Zeitung:
[…] Überrascht hat mich dafür eine kürzliche Begegnung mit einem Deutschen im Theater Tuchlaube in Aarau. Nach der Uraufführung des neuen Stücks von Ruth Schweikert und Simon Froehling fragte mich ein junge Mann beim Hinausgehen erstaunt, ob es denn üblich sei, dass in Schweizer Theatern hochdeutsch gesprochen werde? Etwas verwundert bejahte ich, wies auf Ausnahmen hin und fügte an – alles auf Hochdeutsch natürlich –, dass bei uns jetzt bereits im Kindergarten mit der so genannten «Standardsprache» begonnen werde.
Der mir Unbekannte spürte offenbar, dass mich seine Frage etwas irritiert hatte, und korrigierte: «Entschuldigung, aber bisher war ich immer nur in Zürichern Theatern. Ich glaubte, dass sie nur dort das Bühnendeutsch sprechen, weil sie sehr international ausgerichtet sind. Dass dies auch bei euch in der Provinz so ist, habe ich nicht erwartet.»
florenz.schaffner@azag.ch
Januar 22nd, 2009 at 14:47
Hallo Jens
Glückwunsch für dieses sehr interessante Blog. Es lohnt sich immer wieder, einen Blick hineinzuwerfen, und auch die Diskussionen sind durchaus anregend ;-).
Ich möchte mir aber einen kleinen Hinweis erlauben, gerade weil es hier so oft um das Thema Sprache geht: Mir ist an mehreren Stellen aufgefallen, dass Du die Deutschschweizer Mundarten gern als „Höchstalemannisch“ zusammenfasst. Das ist aber nicht ganz richtig. Höchstalemannisch wird nur im Wallis, Berner Oberland und einigen zentralschweizerischen Gegenden gesprochen. Der grössere Teil der Mundarten, gerade im dichtbesiedelten Mittelland, ist dem Hochalemannischen zuzurechnen, im äussersten Nordosten ist es gar „nur“ Niederalemannisch.
Ansonsten: Nur weiter so!
[Anmerkung Admin: Danke für den Hinweis. Ich werde in Zukunft nur noch von „Hoch-, Nieder und Höchstalemannisch“ sprechen. Dann sollte es passen, denke ich]
Januar 22nd, 2009 at 16:25
Ich finde die Überschrift unschlagbar klasse! „Minne“ und „Schulharmonisierung“, im Kontext Schule denke ich weder an „Minne“ noch an „Harmonie“, wenn ich dann noch „adlige Feudalkultur“ lese, das passt doch höchsten zu Instituten wie Salem oder dem Lyzeum Alpinum Zuoz. Mal schauen, vielleicht wird mir ja regelmässige Lektüre der Blogwiese als Einführungsschein Mittelhochdeutsch angerechnet. Kann man sich als regelmässiger Blogger eine Bescheinigung ausstellen lassen?
Januar 22nd, 2009 at 22:16
minne wird in der schweiz höchstens als bereicherung des standardeutschen gebraucht. in der alemannischen umgangssprache nicht. aber: „die situation hat sich in minne aufgelöst“, verstehen nieder-, hoch- und höchstalemannen.
Januar 22nd, 2009 at 22:28
„Der Sprachstand dieser Literatur ist dem modernen „Höchst-Alemanisch“, dem Schweizerdeutschen also, erhalten geblieben: wir alemannen machten im allgemeinen die diphtongierung und die monophtongierung nicht mit. aber ich wüsste nicht, wer in der schweiz „frouwe“ statt „Frau “ sagt. gut, den zürchern würde ich noch allerhand zutrauen. übrigens: ich spreche niederallemannisch, wie die mülhauser und die freiburg-im- breisgauer. aber ich hatte einmal eine höchstalemanische freundin aus dem urserntal, die sagte „huis“ statt „huus“.
Januar 23rd, 2009 at 10:14
Höchstallemannisch kann nur Baseldeutsch sein, weil:
Baseldytsch isch s‘ Greschty.
Januar 23rd, 2009 at 10:30
@pit vo lissabon: Im Bernbiet wird zwar auf das „w“ in Frouwe“ verzichtet, aber man sagt „Froue“, und wenn man das das so ausspricht, berühren sich die Lippen/Zähne beinahe zu einem „w“.
Januar 25th, 2009 at 18:36
Ich denke, auch im Mittelalter wurde das „w“ bei den Fouwe nicht betont, es führte einfach dazu, dass man das Froue richtig, also mit sehr stumpfem „u“ aussprach. Auch Schlüsseli sagt man heute noch im Bernbiet. Mir fiel im Deutschunterricht auch auf, dass wir Schweizer Schüler, keine Mühe hatten mit den Minneliedern, wenn sie laut vorgelesen wurden, verstanden wir auf Anhieb beinahe jedes Wort. Für einmal also sind die oft belächelten Schweizer im Vorteil. Schön.