Sie sprechen jetzt Hochdeutsch, Herr Mörgeli — Über die Soziolekte „Oxford English“ und „Hochdeutsch“
(reload vom 21.02.07)
Die Mär vom „geschliffenen Hochdeutsch“, das angeblich so viele Deutsche aus dem Norden sprechen, steht im krassen Gegensatz zum häufig gehörten „Nuscheldeutsch“. Hyperkorrekt zu sprechen ist lernbar, Sprache „richtig“ zu verschleifen wie es eine existierende Sprechgruppe praktiziert, ist schon schwieriger. Wer noch Probleme mit dem korrekten Nuscheln oder Nuscheln verstehen hat, kann dies trainieren beim „schlecht gelaunten Nuschel-Orakel“ des südbadischen Senders SWR3.
Das viel zitierte und gerühmte „Oxford-English“ ist in Wirklichkeit ein „Soziolekt“, der mit kunstvoll angestotterten Konsonanten ebenso umgeht wie merkwürdig exotischen Aussprachregeln von Namen. Das „Magdalen-College“ in Oxford, in dem u. a. J.R.R. Tolkien Mitglied der Fakultät war, spricht sich zum Beispiel [ˈmɔːdlɪn] „mudlin“, was schon an Geheimsprache grenzt.
Die Sprache der Oxford-Absolventen hat als „Gruppensprache“ auch die Funktion, einen Angehörigen dieser Elite leicht an seiner Rede identifizieren zu können.
Eine andere Bezeichnung für dieses Englisch ist „Received Pronunciation“, kurz „RP“:
RP ist ein Akzent, der mitunter, aber immer seltener, auch als „Queen’s English“, „King’s English“, „Oxford English“ oder „BBC English“ bezeichnet wird. Dieser Akzent geht auf Merkmale der Aussprache im Südosten Englands zurück und galt bis vor einigen Jahren als diejenige englische Aussprachevariante, wie sie für gebildete Sprecher empfohlen wurde.
(Quelle: Wikipedia)
Wir lesen weiter:
Bei seiner Beschreibung über die Aussprache des Englischen bezog sich der englische Phonetiker Daniel Jones auf RP als Referenzsystem. Er selbst sprach diese Sprachvariante und bezeichnete sie als eine Aussprache, die mit keiner bestimmten Region assoziiert werden könne. RP ist in dieser Hinsicht ein Soziolekt.
In seinem „English Pronouncing Dictionary“ vermerkt Daniel Jones, dass die in seinem Buch benutzten Ausspracheregeln der Aussprache entsprechen, wie man sie in der Alltagssprache südenglischer Familien antrifft, deren Söhne die bekannten Internatsschulen (public boarding schools) besucht haben. Diese Aussprache hätten auch viele Sprecher angenommen, die nicht aus dem Süden Englands kommen und an diesen Schulen unterrichtet wurden. Auch die Mehrzahl der nicht an diesen Schulen ausgebildeten Sprecher aus den angesehenen Gesellschaftschichten würden RP benutzen.
(Quelle: Wikipedia)
Die Angehörigen einer bestimmten Gesellschaftschicht finden so über die Sprache zu einander und erkennen sich in bei jeder Gelegenheit. Könnte im Süddeutschen Schwabenland nicht passieren. Niemand würde auf Hochdeutsch ausweichen, um seine Zugehörigkeit zu einer Gesellschaftsschicht zu demonstrieren. Es sei denn, er sitzt als einziger Süddeutscher in der Redaktionskonferenz beim Hamburger SPIEGEL mit am Tisch und bekommt das Wort zugeteilt. Oder es handelt sich um ein Vorstellungsgespräch für eine Lehre bei der Sparkasse Ludwigsburg und gute Kenntnisse der Standard-Hochsprache gelten als Bildungsnachweis.
Als Herr Mörgeli im Zischtigs-CLUB plötzlich auf Hochdeutsch über ein historisches Sachthema weitersprach, demonstrierte er unterbewusst „Schaut her, ich bewege mich sicher in der Schriftsprache der Wissenschaft, womit ich meine Fachkompetenz unterstreichen möchte“. Schön zu beobachten im Video-Stream an der Stelle 29:38 . Doch dann wurde er von der wunderbaren Christine Maier, Tochter Deutscher Eltern, mit dem Satz „Jetzt sprechen Sie Hochdeutsch, ist das Ihnen bewusst?“ zurückgepfiffen und sprach geradezu verschämt wie ertappt auf Züridütsch weiter. Er spricht wunderbar beide Varianten des Deutschen, die Standardsprache gleich wie sein Züridütsch. Die Wahl der Variante ist in diesem Moment die Wahl des richtigen Soziolekts. Will ich Teil meiner Wählerschaft bleiben, von ihnen als einen der ihren erkannt und anerkannt werden, oder will ich im Studio des Schweizer Fernsehens Teil der Gruppe „Wir sind doch alle Historiker“ sein. Die Wahl der richtigen Variante bei zweisprachigen Menschen wie Herrn Mörgeli ist immer zugleich die Frage: „Zu welcher Sprechergruppe möchte ich gehören?“.
Das Phänomen der Soziolekte lässt sich bei der Schweizer Diglossie „Schweizerdeutsch- Hochdeutsch“ besonders gut beobachten. Aber auch in Deutschland verfügt jeder Sprecher in der Regel, je nach Bildung, über mehrere Soziolekte. Auf dem Fussballplatz redet der Herr Professor mit den Fans in der Südkurve anders als mit seinen Studenten in der Sprechstunde oder seiner Mutter aus dem tiefsten Schwarzwald am Telefon. Für mich ist es bei der Begegnung mit den Schweizer besonders spannend zu beobachten, wann sie „switchen“ und mit welcher unbewussten Absicht dies geschieht. Es ist nicht immer die „Ich bin jetzt mal höflich und rede auf Hochdeutsch weiter“ Begründung, die mich überzeugt. Es laufen viel mehr unbewusste Prozesse dabei ab, wie „ich demonstriere jetzt meinen Bildungsstand“, oder „ich demonstriere jetzt meine Gruppenzugehörigkeit“, wie am Beispiel von Herrn Mörgeli in der Sendung CLUB zu sehen.
Juli 12th, 2010 at 11:55
Beim Sprichwörtlichen ,oder zur Unterstreichung wichtiger Inhalte eines Vortrags bzw. Formulierung komplexerer Sachverhalte, lässt sich ein Umschalten von Mundart auf Hochdeutsch in SF Sendungen oder bei Vorträgen immer wieder beobachten.
Ich verwende den Begriff Standarddeutsch bewusst nicht, weil es ihn meiner Meinung nach nicht gibt und er nur dazu dient, das vermeintlich Emotionale vom Sachlichen zu unterscheiden.
Ich glaube kaum dass Goethe seine Dichtungen zuerst in hessisch gedacht und sie dann ins „Standarddeutsche“ übersetzt hat.
Aber weshalb schreiben der Schweizer Schriftsteller, die Presse nicht Mundart?
Juli 12th, 2010 at 15:33
Goethe? Der hat selbstverständlich Mundart gedichtet. Der Urfaust reimt sich ausschliesslich in hessischem Dialekt – alle Schulversionen sind „hochgedeutscht“ … aus demselben Grund, wie auch unser aller Freund Mörgeli das bisweilen tut, damit’s gebildet rüberkommt.
Juli 12th, 2010 at 23:21
Und wenn man die Memoiren des Schauspielers Genast, der zur Zeit Goethes und Schillers in Weimar gespielt hat, liest, weiss man auch, dass Schiller bis an sein Lebensende schwäbisch gesprochen hat.
Juli 13th, 2010 at 11:51
Herr Mörgeli spricht nicht Hochdeutsch, der schleimt es.
Juli 13th, 2010 at 14:51
Oxford-Englisch ist ein Germanismus, RP gibt es zwar im Englischen wirklich als Begriff aber der ist eher nur was für Linguisten. So pedantisch bezüglich ihrer Sprache sind nämlich die Angelsachen nicht. Schweizer, Deutsche und Österreicher sind sich halt doch ähnlicher als sie bemerken.
Im Englischen gibt es nicht einmal eine echte amtliche Schreibung und geschadet hat es weder Erfolg noch Vielfalt dieser Sprache, ganz im Gegenteil. Darüber hinaus war der Grund eine Standardsprache einzuführen („Hochsprache“ hat einen hochnäsigen Beiklang) ja die Eloquenz zu fördern. Dialekte schön und gut aber das was heute noch an Dialekten vorhanden ist das war die Sprache der Landbevölkerung und die war eben überall auf der Welt eher wortkarg. Bildungsbürgerliche Stadtdialekte sind hingegen im gesamten deutschen Sprachraum ausgestorben und wurden durch das gefühlte Hochdeutsch ersetzt (freilich auch mit schlampiger Aussprache a lá verschlucken von -r zu -a etc.).
Als Ausnahme mag mir momentan eigentlich nur das Hamburgerische einfallen, wo man „Stopp“ nicht als „Schtop“ ausspricht und Vornamen mit „Sie“ kombiniert. Und dann wäre da noch Wien, das Schönbrunnerische ist zwar auch auf dem Rückzug und wird zunehmend von einem seichten „Neu-Österreichischen“ (vorallem verwässertes Tirolerisch) verdrängt. Aber man kann es noch hören, wenn im ORF die Branche zur „Broosch“ wird.
Es bleibt ein Paradoxum dass ein Land mit hohem Anspruch wie die Schweizer freiwillig auf die bessere Eloquenz und Ausdruckskraft der Standardsprache verzichten, erklären kann ich mir das eigentlich nur als Nationalismus und Abgrenzungsgebaren. Analog zur Ablehnung der Deutschen. Wohl nur eine Frage der Zeit bis auch nicht mehr von Schweizerdeutsch gesprochen wird sondern von Schweizerisch.
Bliebe noch das Problem von Italienisch und Französisch, die natürlich auch rein zufällig in den Teilen der Schweiz gesprochen werden die an Italien und Frankreich grenzen – so wie die Deutschschweiz an Deutschland grenzt. Alles reiner Zufall. Kulturelle Verwandtschaft oder gar gemeinsame Vorfahren und gemeinsame Geschichte – demzufolge auch gemeinsame Kultur, ja eine gemeinsame Sprache – der Deutschschweizer mit den Deutschen … eine Ungeheuerlichkeit wäre das!
Juli 13th, 2010 at 19:31
Chère Bavaroise
Einverstanden bin ich mit dem Standpunkt, dass der Begriff «Hochsprache» auf den Index gehört. Ansonsten sträuben sich bei der Lektüre deines Textes meine Nackenhaare.
Dass Dialektsprecher «überall auf der Welt eher wortkarg» sein sollen, kann ich nicht nachvollziehen. Ebenso abenteuerlich ist die Folgerung daraus, Standarddeutsch fördere die Eloquenz. Nun ja, abgesehen davon, dass ich genügend Deutschschweizer Hochleistungs-Schnattergänse und -gänseriche kenne: Ich misstraue der so genannten Eloquenz, da ich Leute mit dieser Qualität allzu oft als «hooli Plapperi» und «Plöffsäck» erlebe, wie man in meiner Mundart sagt.
Aber dass es keine «bildungsbürgerlichen Stadtdialekte» mehr geben soll, lässt mich an mir selber verzweifeln, hielt ich mich ich doch schon immer für einen Deutschschweizer Stadtmenschen. Jahrzehntelang glaubte ich feine und weniger feine Unterschiede zwischen meiner Stadtmundart und der Sprache der umliegenden Dörfer oder Gegenden herauszuhören, und jetzt so was. Ich muss wohl zum Ohrenarzt.
Ich frage mich, was du von der Deutschschweizer Sprache und der hiesigen Sprachsituation überhaupt verstanden hast. Vor allem hast du anscheinend nicht gemerkt, dass Mundarten hier in erster Linie regional definiert sind und im betreffenden Landstrich für alle Menschen die übliche Alltagssprache sind. Sie gehen in sehr viel geringerem Mass als in anderen Ländern mit einer bestimmten sozialen Schicht oder einem bestimmten Bildungsniveau des Sprechers einher.
Juli 13th, 2010 at 20:58
Ich muss mal
Wer ist Goethe, wer ist Schiller
wenn ich in die Iller piller
oder sollt ich sagen pullern
andernorts da heisst es strullern
nur, wer will das wirklich wissen
ich tu auch in die Donau schiffen
oder in die Aare pissen
ja mein Hochdeutsch ist geschliffen
und wenn ich in die Elbe seiche
ist dasselbe nicht das das Gleiche
andere wollen die Frauen umgarnen
mir ist nur danach zu harnen
am allerbesten ist das Urinieren
aber stets auf allen vieren
eben noch die Nahrung fassen
heisst es pötzlich Wasser lassen
auf Kommando Blase leeren
können nicht nur Berner Bären
ich geh dann mal für kleine Jungs
oder auch für Königstiger
pieseln, brunzen, buschen
piepln und auch lulu machen
wie man das nennt, ist doch egal,
ob hochdeutsch, mittel oder nieder
wer lange muss, der hat die Qual
und notfalls geht’s ins Mieder
das ist doch bei allen so
jeder war mal auf nem Klo
sag von mir aus ruhig WC
andere machen in den Schnee
wie die Tiere heisst’s markieren
das Revier sich reservieren
doch so weit man das wohl wisse
es ist und bleibt nur Pisse
oder heisst es, dass man weiss
dann wäre es ja auch nur … Mist.
Juli 13th, 2010 at 21:30
@neuroart
Wauw!
Juli 13th, 2010 at 23:42
@neuroflex
Er auch.
Ein feiner Herr steht vorm Pissoir,
und versucht zu zielen ins Urinar.
Er will so schnell mal etwas lullen,
ist jedoch laut dabei, wie alte Bullen.
Sieht sogleich am Ende vom Pinken,
ein winzig Tröpfchen etwas blinken.
Schüttelt, als sei’s ein lustig Wimpel,
so wird nichts werden, du oller Pinkel.
Hab hingewiesen auf fehlende Worte,
sehr wohlfein abgestimmt zum Aborte.
Juli 14th, 2010 at 10:43
@Guggeere
Da meine „Muttersprache“ ebenfalls Alemannisch ist (freilich eine Variation des bayrischen Allgäus) sind mir alle Formen von „plappern“ fremd, auch wenn man ein -i hinten dranhängt wird daraus kein Alemannisch. Der Begriff „Kauderwelsch“ hat seinen Ursprung wohl nicht umsonst in der Schweiz.
Freilich kann man in jeder Sprache daherschwätzen, darum geht’s nicht. Die Standardsprache ist qua Entstehung eine Mischung vieler Mundarten, garniert mit Fremdwörtern und an’s Latein angelehnter Grammatik. Von Flensburg bis Bregenz hat man quasi seinen Wortschatz zu einem großen Haufen zusammengeschmißen und hat damit, als deutschsprachige Gemeinschaft, natürlich einen größeren Fundus aus dem man schöpft als zuvor.
Die Entstehung des Hochdeutschen ist mehr Kunstsprache als alles andere, mit just diesem Zwecke: dieser lokalpatriotische Flickerlteppich im deutschen Kulturraum sollte zumindest miteinander kommunizieren können ohne auf Französisch ausweichen zu müssen. Selbst in ihrer „Kirchturmpolitik“ und der Ablehnung ihrer nächsten Nachbarn sind sich Schweizer, Österreicher und Deutsche ja noch gleich und merken es nicht einmal.
Ich find das bisweilen schon amüsant wie dann mit der Lupe nach Unterschieden gesucht wird anstatt die große Masse des Einenden zu betonen und zu leben. Ich merke immer den starken Kontrast zu den Angelsachsen, wie fruchtbar ist zB deren weltweites Gemeinschaftsgefühl als englische Muttersprachler.
600 Millionen angelsächsische Muttersprachler (oder 100 Millionen wie im Falle des Deutschen) bringen halt mehr Neologismen, Wortspiele, Liedtexte etc. hervor als 7 Millionen Schweizer usw. alleine. Wobei sich auch hier Schweizer und Deutsche in der Ablehnung ihrer eigenen Sprache wieder gleich sind, junge Musiker singen im Regelfall und ganz selbstverständlich auf Englisch (mangels muttersprachlicher Tiefe bestehen die Texte dann vor allem aus „Baby“ und „Love“) und es gilt als gebildet – obwohl ja eigentlich eingebildet – überflüssige Anglizismen zu verwenden.
Juli 14th, 2010 at 22:56
Und jetzt? Verstehe die Schweizer Aufregung um hochdeutsch im Kindergarten und in der Schule nicht. Ich musste in Stuttgart zu keiner Minute im Kindergarten oder Schule hochdeutsch sprechen. Aber selbstverständlich konnte ich es einigermassen, weil sonst würde ich ja noch nichtmal verstehen was auf RTL, SAT1 und PRO 7 gesprochen wird *lach*
Juli 16th, 2010 at 18:31
Vielleicht etablieren sich Soziolekte eher in Ländern mit einer höheren Einwohnerzahl. Dort grenzt man sich eher ab als in einem kleineren Land, wo man evtl. das Gefühl hat, zusammenrücken zu müssen.
Juli 26th, 2010 at 1:22
@Bavaroise
Hochdeutsch ist eine Kunstsprache, weil es eine Kunst für Schweizer darstellt, es zu sprechen. 😀
Dadurch, dass eine Sprache nicht ausschließlich gewachsen ist, sondern man sich anfänglich quasi auf bestimmte Regeln und Wörtschätze geeinigt hatte, mach diese nicht zur Kunstsprache.