Wenn der Esel am und der Ochs vorm Berg steht — Wie erkennt man einen Schweizer an seinen idiomatischen Wendungen?
(reload vom 6.11.06)
Jeder, der sich schon einmal mit dem Lernen von Sprachen beschäftigt hat, weiss, dass es da ausser Grammatik und Vokabular noch eine weitere Ebene gibt, die extrem schwierig zu lernen ist. Man lernt sie automatisch mit der der eigenen Muttersprache, oder lernt sie unbewusst passiv durch ausgiebige Lektüre. Die Rede ist von „idiomatischen Wendungen“, von Sprichwörter und Redensarten. In der Schweiz wird das in der Schule gelehrt und gelernt.
So wurden wir Zeuge, wie Berufschüler in der S-Bahn von Zürich sich morgens gegenseitig die Bedeutungen von „Morgenstund hat Gold im Mund“ (das Leitmotiv der Zahnärzte), „Der Krug geht so lange zum Brunnen bis er bricht“ und „Die Axt im Haus ersetzt den Ehemann“ abfragten, wie Englisch oder Französisch-Vokabeln. Sie lernten dies für den Deutschunterricht. Eine Prüfung dazu war angekündigt worden. Sie tun gut daran, sich in diesen idiomatischen Wendungen fit zu halten, denn ohne diese Formulierung versteht man heute keine Zeitung und keine Nachrichtensendung.
(Quelle Foto: fraema.it)
Doch Vorsicht: Jedes Land im deutschsprachigen Europa kennt da eigene Varianten. Ochs und Esel zum Beispiel, aus der Weihnachtsgeschichte nach Matthäus allen bekannt, machten sich auf nach Europa, und kamen zu den Alpen, wo sie stehen blieben. Der Ochs stand „vorm Berg„, und der Esel „am Berg„.
Google kennt 88 Belege für „wie der Esel am Berg“. Unser Variantenwörterbuch aus dem DeGruyter Verlag meint zum Stichwort Berg:
*[dastehen] wie der Ochs vorm Berg AD;
*dastehen wie der Esel am Berg CH (salopp) „verdutzt, ratlos [sein]; mit einer Situation überfordert [sein]. Betreten sass der Junge da wie der Ochs vorm Berg (OÖN 3.3.2001, 16;A); Oft stehen wir da wie der Esel am Berg, wenn wir ausländische Gäste etwas über unser Land erzählen müssen (TA 20.8.1006, Internet; CH);
Nun gilt es noch herauszufinden, wieso es zu dieser feinen Differenzierung kam. „Ochs vorm“ ist ein Binnenreim mit doppeltem „O-Laut“. „Esel am Berg“ hingegen, da werden wir nicht schlau draus. Vielleicht spielt da noch die zweite Bedeutung vom „dummen Esel“ mit hinein? Es lässt sich nicht endgültig begründen, warum die eine Formulierung in Österreich und Deutschland, die andere jedoch in der Schweiz üblich ist. Je nachdem, ob sie ihrem Text eine „Standarddeutschefärbung“ oder mehr den helvetischen Grundton geben wollen, sollten sie lieber den „Oxen vorm Berg“ oder den „Esel am Berg“ wählen. Nur sollten sie beide Redewendungen niemals mischen, also keinen „Oxen am Berg“ und keinen „Esel vorm Berg“ platzieren. Das ist Stilbruch, und fast so grausig wie „das schlägt dem Fass den Boden mitten ins Gesicht“ oder „der Apfel fällt nicht weit vom Birnbaum“. Knapp daneben ist eben meistens auch vorbei.
Dann gibt es da noch den berühmten Ausspruch Erich Honeckers vom 6. Oktober 1989, im Palast der Republik anlässlich des vierzigsten Geburtstags der DDR vorgebracht:
„Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“
(Quelle: FAZ vom 22.12.98, zitiert nach „Die DDR im WWW„)
Der äusserst lesenswerte FAZ-Artikel führt aus, dass dieser Spruch schon 100 Jahre mehr auf dem Buckel hat und aus einer Zeit stammt, als sozialdemokratische und christliche Weihnachten bitter in Konkurrenz zu einander standen.
Seit dieser Zeit müssen Ochs und Esel alles nur erdenkliche Aufhalten: Den Sozialismus, den Kapitalismus, den Kommunismus, aber auch die Globalisierung, und sie schaffen es nicht. 627 Belege finde sich bei Google. Sie stehen also quasi nicht mehr vor oder am Berg, sondern nur noch im Lauf, und halten dennoch nichts auf. Was für eine Wende.