Wer führt eigentlich hier den Mist? — Neue Schweizer Redewendungen
(reload vom 31.3.06)
Wir stolperten über einen Satz im Tages-Anzeiger vom 23.03.06 S. 15
Der Mist ist nun geführt, und das Urteil des Obergerichts ist rechtskräftig.
Es ging in dem Artikel um eine Bauernfamilie auf dem Döltschihof in Wiedikon, die nach einem Urteil des Obergerichts ihren Hof räumen muss. Der Satz passt also vollkommen in den Kontext, in dem es auch um biologischen Landbau und Milchkühe geht. Dennoch verstehen wir absolut nicht, warum man hier „Mist führen“ muss. Vielleicht ist es nur ein Schreibfehler, und es sollte heissen: „Der letzte Mist wurde aufs Feld gefahren“, die letzte Scheune leer geräumt, die Arbeit erledigt. Aber da steht eindeutig „geführt“, und nicht „gefahren“. Ob sie dort mit einem Ochsenfuhrwerk arbeiten, und die Zugtiere mit einem Karren voll Mist im Schlepptau auf das Feld „geführt“ werden müssen? Diesmal beschliessen wir, nicht viel Zeit mit Duden, Wahrig, Leo und Konsorten zu verlieren, sondern gleich das Variantenwörterbuch des Deutschen aus dem DeGruyter Verlag zu befragen. Und tatsächlich, wir lesen dort schwarz auf weiss auf Seite 505:
„Der Mist ist geführt“ CH ‚etw. ist gelaufen, erledigt’
Die Kräfte reichten nur bis zum ersten Gegentor. Dann war der Tank leer – und der Mist geführt (Blick 16.5.1998,15)
Suchen wir genau diesen Ausdruck „Der Mist ist geführt“ bei Google-Schweiz, so finden wir weitere schöne Beispiele:
Der Mist ist geführt Weltwoche, 17. August 2000
In Zürich und Chicago einst ein eigenartiger Hit, in New York jetzt ein peinlicher Flop: die kuriose Kuhparade.
(Quelle: hossli.com)
Oder auf der offiziellen Seite parlament.ch
Der Mist ist geführt
Weil die Finanzdelegation das dringliche Airline-Engagement gebilligt habe, stehe das Parlament vor einem „Fait accompli“, sagte Simon Epiney (CVP/VS).
(Quelle: parlament.ch)
Oder hier:
Die National- und Ständeratswahlen sind vorbei; die Resultate sind bekannt. „Der Mist ist geführt“, ist eine gängige Redensart dafür.
(Quelle: www.ref-ag.ch)
Verstehen Sie diese Redewendung?
Ganz ehrlich: Ohne den Hinweis des Variantenwörterbuchs wären wir nie auf die Bedeutung „etw. ist gelaufen, erledigt“ gekommen. Verstehen das die Schweizer einfach so auf Anhieb? Wo mag diese Redensart nur herkommen? Tatsächlich aus der Zeit, als in der Schweiz Zugtiere mit einem Karren voll Mist auf das Feld geführt wurden, und nach Ausbringen dieser Fuhre einfach „alles erledigt, alles gelaufen“ war.
Weil man nun auf dem Feld so lange nichts mehr arbeiten konnte, bis sich der Gestank verzogen hatte? Alles nur unsere Vermutungen. Ist diese Redewendung vielleicht im kollektiven Bewusstsein der Schweizer so fest verankert, weil hier alle irgendwie von Vorfahren abstimmen, die im Agrarsektor tätig waren? Nun, bekanntlich ist auch die „Grande Nation“ Frankreich früher ein Agrarland gewesen, dass erst sehr spät den Umbau zur Industrienation erlebte. Die meisten Franzosen haben Vorfahren aus irgendeinem kleinem Dorf der Province, die in Frankreich gleich hinter der Stadtautobahn von Paris, dem „Boulevard périphérique“ beginnt. Und im Ruhrgebiet weideten vor 150 Jahren noch Kühe, bis ein Kuhhirte in Bochum im Lagerfeuer plötzlich glühende Steine fand, womit die Kohle auch dort entdeckt und die Bauernidylle zu Ende war. Vielleicht ist es darum auch in der Schweiz an der Zeit, sich daran zu erinnern, dass in solchen Redewendung „bäuerliche Grunderfahrungen“ konserviert werden. Frei nach der alten Schweizer Bauernregel:
„Wenn der Bauer führt den Mist, dann ändert nicht die Sprache, sondern sie bleibt, wie sie ist“
Februar 26th, 2009 at 11:20
Endlich, wieder mal echter Schitt zur Entspannung / Abwechslung.
Um diesen sinnlichen schweizgängigen Spruch vom „Mist führen“ zu ergründen, müssen wir die hierzu passenden marmorveredelten Bankenmisthaufen verlassen und in die realen Misthaufen des Mittelalters hineintauchen. Nicht nur an der Oberfläche, sondern mittendrin rein.
Der Jens hat schon mal die richtige Tür geöffnet, jedoch müssen wir die mittelalterliche „Drei-Felder-Wirtschaft“ einbeziehen.
In einem 3-Jahres-Wechsel wurden die Wirtschaftsflächen im 1. Jahr mit Winterfrucht, im 2. Jahr mit Sommerfrucht genutzt und im 3. Jahr wurde diese Fläche in der sog. „Brache“ nicht landwirtschaftlich bestellt. D.h.: Diese brachliegende, nicht genutzte und sich erholende Fläche wurde mit Mist beschickt, teilweise ungepflügt (Weide) belassen oder auch, wenn man im nächsten Jahr Korn anpflanzen wollte, in die sog. Schwärze (Acker) verbracht. Es wurde dann auf dem Acker eine Pflügung durchgeführt, um den Mist in den Grund einzuarbeiten und so auch den Wuchs von Unkräutern zu verhindern / erscheren.
Danach folgte üblicherweise die Winterfrucht. So wurde es der Fläche ermöglicht, sich zu erholen und die notwendigen Nährstoffe des sich nun zersetzenden Mistes aufzunehmen.
Da der Misthaufen nach 1 Jahr Nutzung voll ist, wird seine Lagerfläche durch „Mist führen“ wieder frei gemacht. Der Misthaufen ist abgeräumt, es ist kein Mist mehr da! Man kann dann also „kein Mist machen“, es gibt „keinen Mist mehr“, es kann / muss keine „Mistarbeit“ durchgeführt werden, es kann „kein Mist verteilt“ werden, d.h. das „Mistwerk ist vollbracht“! Für 1 Jahr, bis die nächste Drittel-Fläche in die Brache kommt und dann „wieder Mist gemacht“ wird.
Die entscheidende Aussage im Sinnspruch „Mist führen“ verbirgt sich m. E. darin: Die Miste ist abgefahren, er ist weg, die Fläche ist leer / frei, der Misthaufen ist abgeräumt, es ist auf der Mistplatz nichts (mehr) da! Man kann „wieder Mist machen“. Als kann man ableiten: Die Schweizer haben ein besonderes Verhältniss zum Mist.
Zum Begriff der „Mistfuhre“ ergibt sich bei den Brüdern Grimm folgende Erklärung: „…… ausführung des mistes auf die felder: die erste mistfuhre geschiehet zur wintersaat auf das brachfeld im junio…… auch die zeit, da der mist auf die felder geführt wird. ebenda. mistfuhre endlich auch eine fuhre oder ein fuder mist.“
Das ist wie bei einem mistigen „Führer“: Der bringt die Leute auch irgend wo hin. Und wenn es der „Misthaufen der Geschichte“ ist.
Februar 26th, 2009 at 12:09
Ich denke, es hat nichts damit zu tun, dass man nun das Feld nicht mehr bearbeiten kann (schliesslich wird ja vor dem Ackern auch noch Mist ausgetragen). Und der Gestank dürfte wohl kaum einen Bauern stören 🙂 (Als Landei weiss ich vovon ich schreibe). Die Redewendung bedeutet einfach, dass der Mist weg ist und auf dem Feld ausgetragen. Und beim „der Mist ist geführt“ schwingt auch etwas mit wie „daran gibts nichts mehr zu ändern“. Und ist der Mist mal ausgetragen, so lässt er sich kaum mehr zusammenführen. Da ist er nun mal, wenn auch auf dem falschen Feld vielleicht.
Februar 26th, 2009 at 13:27
Wenn der Mist geführt ist, ist etwas ungewolltes, unvorhergesehenes, unangenehmes passiert, erledigt worden, angekommen. „Jez isch aber der Mischt gfüehrt!“ Ist Negativ gemeint. Ist halt so¨! Selber schuld! Die Folgen sind offen.
Bei der UBS ist der Mist schon lange geführt.