Schweizerdeutsch für Fortgeschrittene (Teil 10) — Von Werwölfen und Werweissen

März 28th, 2008

(Reload vom 12.12.05)
Wir lasen im November 2005 im Tages-Anzeigers:

„Das Werweissen um die Reaktion der Swisscom auf die abrupte Strategieänderung des Bundes gefällt den Anlegern gar nicht“

Schon früher lasen wir an gleicher Stelle:

„Werweissen um abgestürztes Flugzeug“

Nur wie das so ist: Einmal gelesen und schon wieder vergessen, was das mag heissen, das „Werweissen„? Hat es vielleicht was mit „Werwölfen“ zu tun? Oder mit der Pflanze „Wermut„, die man auch lecker trinken kann, dann natürlich als „Wermutstropfen„.
Wermut wird auch Absinth genannt
Wermut wird auch Absinth genannt und wurde als Alkohol verboten:

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Absinth jedoch in fast allen europäischen Ländern verboten. Es wurde behauptet, Absinth verursache Absinthepilepsie und bei Absinthtrinkern sei ein verstärkter Hang zu Selbstmord und Wahnsinn zu beobachten. Konkreter Anlass für dieses Verbot war der sogenannte Absinthmord des Schweizers Jean Lanfray, der im Jahre 1905 nach dem Konsum einiger Flaschen Absinth in Kombination mit Wein, Creme de Menthe und Weinbrand seine Familie erschoss.
Durch das Verbot wurde Absinth fast den Rauschdrogen gleichgestellt, wobei das im Wermutkraut enthaltene Neurotoxin „Thujon“ durchaus Drogencharakter haben kann, wie übrigens fast alle (Arznei-) Pflanzen. Deswegen sind heute nach der Aromenverordnung maximal 10 mg Thujon pro Liter Alkohol bei einem Alkoholgehalt über 25% erlaubt. Damals war teilweise die bis zu fünffache Menge in handelsüblichem Absinth enthalten. (Quelle)

Ja, die Schweizer, wenn die mal zu viel trinken, erfolgt sofort ein Europa weites Alkoholverbot deswegen. Doch jetzt wissen wir immer noch nicht wer es weiss, also zurück zu unserem „Werweissen„:
Ist ziemlich beliebt, dieses Wort, in der Schweiz, denn Google verzeichnet knapp 836 Fundstellen

Wer weiss was „werweissen“ heisst? Der Duden, unser Standardwerk zu allen Fragen der Rechtschreibung, hilft wie immer weiter:

werweissen“ = hin und her raten.

  • Ich werweisse, Du werweisst, er hat gewerweisst
  • Warum habe ich das nicht gewusst? Wollen wir zusammen werweissen, bis wann ich das wieder vergessen habe? Wer weiss …

    So ist das mit diesen total Deutsch klingenden Schweizer Ausdrücken: Man mag als Deutscher beim Hören oder Lesen einfach nicht zugeben, das man absolut keine Ahnung hat, wovon hier mal wieder die Rede ist. Schliesslich ist das doch auch Deutsch, also unsere Muttersprache. Warum verstehen wir es dann nicht?

    Kügeli, Züseli und ein Hick – Schweizerdeutsch für Fortgeschrittene (Teil 11)

    März 20th, 2008
  • Ist Züseli eine Ziege?
  • Es nimmt kein Ende. Auch nach über 700 Beiträgen, die häufig auf Fundstellen aus dem Tages-Anzeiger beruhen, sollte doch irgendwann einmal Schluss sein mit neuen Entdeckungen. Im Gegenteil, die Verwendungsfrequenz von modernen gesprochen Elementen des Schweizerdeutschen in der Schriftsprache nimmt in Echtzeit zu, und zwar unaufhaltsam. So lasen wir am 14.03.08:

    Kügeli und Züseli

    Eine Notfall-Apotheke mit Kügeli für den Fido und das Züseli
    Tierhalter können ihre Hunde und Katzen auch homöopathisch behandeln. Zürcher Tierärzte haben einen Leitfaden verfasst. Von Jürg Schmid Zürich. – Nach dem Streit mit einer Nachbarskatze kommt Züseli verletzt nach Hause. Sie hat einen Hick im Ohr und eine Bisswunde an der Schnauze. Die Wunde eitert, die Katze jammert, faucht und frisst nicht mehr richtig. Oder Fido hat sich beim Spiel im Wald eine Kralle ausgerissen. Was tun, wenn kein Tierarzt in der Nähe ist, der rasch helfen kann? (…)
    (Quelle: Tages-Anzeiger vom 14.03.08, S. 19)

    Wer hat behauptet, dass die häufige Verwendung von „li“ als Verkleinerungsform in der Deutschschweiz völlig überbewertet wird? Es gäbe z. B. gar keine „Fränkli“ , sondern nur „Stutz“ usw. Aber „Kügeli“ schaffen es dann in die Überschrift des Tages-Anzeigers. Nicht verwechseln mit „Chüngeli“, da ist zwar auch was zu essen in der Schweiz, aber nur als Ragout.

    Und Fido? Das ist ein Hundename, und für die Computerfans aus der „Vor-Internet-Zeit“ vielleicht noch der Name eines Mailboxnetzes in altmodischen Modem-Zeiten. Der Erfinder des Fido-Netzes benannte es nach seinem Haustier.

    Aber „Züseli“? Immerhin 97 Fundstellen bei Google, wenn auch nur 16 davon wirklich aus der Schweiz. Unter anderm scheint das ein Name für eine Geisslein zu sein, siehe hier. Also doch nicht immer automatisch eine Katze, eine „Büssi“ oder „Büsi“, je nach Schreibweise?

  • Hick ohne Alkohol
  • Schliesslich ist da noch der „Hick im Ohr“, bei dem unser Duden behauptet, es handele sich um einen Schluckauf:

    hick (Interj.) (ugs.): lautm. für den Schluckauf.
    (Quelle: Duden.de)

    Doch es muss ein Fachwort der Schweizer Tiermedizin sein, denn es findet sich noch ein anderer Beleg:

    Gute Unterscheidungsmerkmale bieten vielmals Verletzungen am Ohr (z.B. ein Hick im Ohr),
    (Quelle: degu.re4.ch)

    Wir kannten den “Hick” nur in Verbindung mit dem “Hack“, wenn es ein „Hickhack“ gibt, laut Duden ist das

    Hickhack (…) (ugs.): nutzlose Streiterei; törichtes, zermürbendes Hin-und-her-Gerede: das innerparteiliche Hickhack um die Verteilung der Finanzen.

    In der Schweiz also auch ohne „Hack“, nur als „Hick“. Im Plural dann mit „s“ am Ende als „Hicks“. Oder hat hier jemand beim Schreiben doch zu tief ins Glas geschaut?

    Die Blogwiese legt eine Osterpause ein und wünscht allen Leserinnen und Lesern ein frohes Osterfest! Wir lesen uns wieder am Dienstag, den 25. März.

    Schweizerdeutsch für Fortgeschrittene (Teil 9) — Von „struben“ Wochen und Brisen ohne „r“

    März 13th, 2008

    (Reload vom 11.12.05)

  • Kein Strubbel am Montagmorgen
  • Wir lesen in der Sonntagszeitung den hübschen Satz:

    Vorsicht, die Sterne versprechen einen struben Wochenbeginn

    Wie immer in solchen Fällen, sind wir zunächst ratlos und beginnen zu grübeln. In welcher Sprache ist dieses Blatt geschrieben? Deutsch! Genauer gesagt: Schriftdeutsch. Aus welchem Land kommen wir noch mal ursprünglich? Ach ja: Deutschland. Was spricht man dort und was lernten wir dort von der Mutter? Die Muttersprache, und die war Deutsch. Und warum verstehen wir dann dieses Wort nicht?

    In solch einsamen Momenten der sprachlichen Not greifen wir dann zum Duden, und finden dort glücklich schwarz auf weiss:

    „strub, strüber, strübste (schweiz. mdal. für struppig; schwierig)“

    Dicht gefolgt von „strubbelig“ oder „strubblig“ wie der „Strubbelkopf“ oder „Struwwelkopf“.
    Ein strube struppiger Struwwelkopf

    Wir folgern messerscharf: Die Woche wird wohl windig beginnen, die Haare bringt es durcheinander und wir sollten mal wieder zum Frisör gehen. Das wollen uns die Sterne sagen. Aber warum wir wegen ein bisschen Wind und Strubbelhaaren gleich Vorsicht walten lassen sollen, bleibt ein Rätsel. Ob es einfach verstecktes Sponsoring ist: „Das Horoskop wurde Ihnen präsentiert von: Ihr Coiffeur“? Der heisst in Deutschland „Frisör„, was zwar nicht mehr Französisch aber dennoch hübsch ist, so wie der „Regisseur„, der sich heutzutage in Frankreich „metteur en scène“ nennt.

  • Wie die Norddeutsche Brise das „r“ verloren hat
  • An der norddeutschen Waterkant, dort wo man nicht die Landesgrenze Deutschlands überschreiten kann, ohne sofort nasse Füsse zu bekommen, weht fast ständig eine „steife Brise“. So steif, dass sich auf der Insel Helgoland laut einer Erzählung von James Krüss die Kinder gegen den Wind anlehnen können. (siehe: „Mein Urgrossvater und ich“).

    Brise mit einem „r“, dass je nach Gegend in Deutschland mit der Zungenspitze gerollt oder mit im Rachen gekrächzt wird. Im Ruhrgebiet fällt es ganz raus und wird durch „ia“ ersetzt, aus „Wurst“ wird „Wuast“. Und so ist dann wohl auch bei der Nord-Süd-Überquerung des Ruhrpotts das „r“ der „Brise“ verloren gegangen, denn in der Schweiz heisst der kalte Nordwind nur noch die „Bise“. Wir Ruhrpöttler finden das prima, haben wir es doch sowieso nicht so mit dem „r“ in Gelsenkiaachen.

    Alles falsch, denn die „Bise“ ist ein 100% Schweizer Produkt:

    Bise ist ein kalter und trockener Nord- bis Nordostwind im Schweizer Mitelland. „Bise“ ist also eine Schweizer Erfindung. Sie tritt bei Hochdruckwetterlagen auf. Im Gegensatz zum Föhn überströmt die Bise kein Gebirge. Bise ist darum weniger turbulent. Im Sommer ist die Bise meist mit heiterem Wetter verbunden, während sie im Winter oft zu Hochnebel führt: Sowohl im Winter als auch im Sommer führt die Bise kühle Luft an die Alpen heran, die sich dort staut und einen Kaltluftsee im Mittelland bilden kann. (Quelle: sfrdrs.ch)

  • Beim Küssen Wind produzieren: Faire la bise
  • Ganz Schlaue behaupten zwar, dass die „Bise“ ursprünglich aus Frankreich stammt. Aber das stimmt nicht, sonst würden die Franzosen nicht ständig versuchen, eine solche zu machen: „Faire la bise“ hat in Frankreich (und in Teilen der Schweiz) nichts mit Windproduktion zu tun, sondern es geht um die berühmte Küsse links und rechts von der Wange in die Luft:
    (Quelle)

    You can ring my bell — Wenn es leicht geht in der Schweiz

    März 10th, 2008
  • Ring my bell
  • Die Älteren unter uns werden sich vielleicht noch an Anita Ward erinnern, die 1979 einen funky Schmachtsong brachte mit dem Titel „You can ring my bell“. Ja, da hörten wir die Glocken läuten. Oder klingeln? Oder war es ein „ring“, was wir da hörten?

    Für die Jüngeren gibt es dann noch die Version von Julio Iglesias, Verzeihung, ich meinte natürlich den Sohn Enrique, der zur Zeit von Anita Wards „Onehitwonder“ 1979 gerade mal 5 Jahre alt war.

  • Ist „ring“ ein Schreibfehler?
  • Das Wörtchen „ring“ entdeckten wir bei der Lektüre des Tages-Anzeigers, und hielten es zunächst für einen Schreibfehler:

    Statt der nötigen 3000 Unterschriften brachte die Luzerner SVP 14’500 zusammen: «Noch nie», beteuert Kantonalpräsident Otto Laubacher, «ist das Sammeln so ring gegangen.»
    (Quelle: Tages-Anzeiger vom 8.3.08, S. 5)

    Aber schnell fanden sich weitere Belege für die Verwendung dieses hübschen Adjektivs:

    aber nichts da! Bin selber erstaunt, dass es jetzt so „ring“ gegangen ist. Aber wie schon erwähnt, ohne Druck wäre es nicht gegangen 😉
    (Quelle: wir eltern – forum.ch)

    Und sogar unser Duden verzeichnet es ganz offiziell als

    ring (Adj.) [mhd. (ge)ringe, →gering] (südd., schweiz. mundartl.): leicht zu bewältigen, mühelos.
    (Quelle: Duden.de)

    Das war doch jetzt echt ring, oder? Dann können wir ja weiter Enrique Iglesias gucken.

    Spatzen die fahren und Reiten ohne Pferd — wenn Schweizer sich nicht verstehen

    März 5th, 2008
  • Zu den Spatzen fahren?
  • Eine Zürcherin erzählte uns, mit welchen sprachlichen Schwierigkeiten sie als Kind zu kämpfen hatte, als sie mit ihren Eltern nach Bern gezogen war. Eines Tages wurde sie von den Nachbarn zum „Spatze fah“ eingeladen. Nun ja, auch schön, so ein Besuch in der Natur bei den Spatzen draussen, denen man sicher etwas Brotkrumen zum Futtern mitbringen konnten.

    Spatz ohne fahren
    (Quelle Foto: gartenspaziergang.de)

    Nichts da, es wurde „spazieren gefahren“. Sowas kannten wir bisher nur von Engländern, die mit grossem Genuss im Auto an der Strandpromenade oder auf einer Steilküste parken, das Fenster herunterkurbeln, ein Sandwich dabei verspeisen und dies als „Spazierfahrt“ bezeichnen.

  • Willst du mitreiten?
  • Ein anderes Mal wurde die kleine Zürcherin unter Bern gefragt, ob sie „mitryte“ wollte. Auch toll, wir fahren zu einem Bauernhofe und gehen reiten, dachte sich das Zürcher Kind, aber weit gefehlt, niemand wollte mit ihr reiten, sie sollte „mit-reiten“ im Auto. „Riding in my car“ sang Woody Guthrie und Pete Seegers einst mit vielen amerikanischen Kindern.

    Take me riding in the car, car;
    Take me riding in the car, car;
    Take you riding in the car, car;
    I’ll take you riding in my car.
    (Quelle: mp3lyrics.org)

    So ein „ride in a car“ muss sich im Bernbiet auch festgesetzt haben, wenn man da heute noch „mitryte“ kann im Auto. Als „Zürcher Kind in der Berner Agglomeration, wo eben auch Bauernkinder mit in die Schule gingen“, war ein Ritt mit Auto etwas ganz Normales.