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Oh glückliche Schweiz! — Vertrauen ohne Kontrolle

  • Vertrauensselige Schweizer
  • Eine Erfahrung, die wir immer wieder machen: Die Schweiz ist ein glückseliges Land, in dem Misstrauen, Niedertracht und Vertrauensmissbrauch nicht bekannt sind. Die Schüler stellen Ihre Fahrräder unabgeschlossen vor die Schule, sie werden nicht gestohlen (die Velos, nicht die Schüler). Die Autos auf Privatparkplätzen sind gleichfalls oft nicht abgeschlossen. Die Türen in Häusern haben Klinken, wo in Deutschland nur Schnappschlösser sind. Im Büroturm meiner Arbeitsstelle bleibt der Empfangsbereich stundenlang umbesetzt: Computer, Drucker, ja sogar die ganze Telefonanlage stehen in öffentlich zugängigen Räumen unbewacht herum. „Bitte wählen sie die Nummer 64“ steht neben dem Telefon, auf dem man ohne Mühe auch nach Australien telefonieren könnte. Missbrauch? Noch nicht vorgekommen.

  • Keine Aufsicht an der Freibadkasse
  • Wir gehen schwimmen, ins wunderbare Freibad von Bülach mit Sprungturm, zwei Rutschen, Kinderbecken und einen Strömungskanal den die Kinder „den Rhein“ nennen, weil der auch so schnell fliesst.
    Die Kasse ist stundenlang nicht besetzt. Die Leute haben Dauerkarten, brauchen keine Aufsicht. Wir dürfen das Bad beim ersten Mal einfach besichtigen (ohne ein Pfand zu hinterlegen, ohne Eintritt zu bezahlen). Alles super sauber. Es gibt Aschenbecher am Stil, die man in den Rasen stecken kann, für die Raucher. Eine Grill-Ecke mit trockenem Holz erlaubt es, den eigenen Grill daheim zu lassen.

  • Bringen Sie den Schlüssel einfach wieder
  • Ein anderes Mal gehen wir Klettern, unter der Eishockeystadion-Tribüne gibt es ein paar Kletterwände. Den Schlüssel für die Kletterhalle holt man sich an der Hallenbad-Kasse, nachdem man Eintritt bezahlt hat. Kein Pfand, keine Kamera, nicht mal einen Namen muss man hinterlassen, so selbstverständlich wird davon ausgegangen, dass der Schlüssel wieder zur Kasse zurück gebracht wird, und dass niemand schummelt und einfach nur für eine Person bezahlt um dann drei Leute klettern zu lassen.

  • Buchausleihe ohne Ausweis, nur mit ihrem guten Namen
  • Und mein Lieblingsbeispiel: Die Stadtbücherei. Ich bekomme sofort einen Ausleihausweis, ohne überhaupt einen festen Wohnsitz nachgewiesen zu haben! Der Ausweis gilt für Frau und Kind gleichermassen. Aber gebraucht wird er praktisch nie: Einfach den Namen sagen bei der Ausleihe, das genügt, und man kann die Bücher (nachdem sie im Computer verbucht wurden) mitnehmen. Nach ein paar Besuchen brauche ich nicht einmal mehr den Namen zu sagen. Die Nase vorzeigen genügt, das Klientel ist persönlich bekannt. „Grüezi wohl Herr Wiese…

    Ist ein vorbestelltes Buch eingetroffen, wird man kostenlos angerufen. Was war das in Deutschland in jeder Stadtbibliothek immer für ein Heckmeck mit Schlangestehen beim Ausleihen, genau wie beim Zurückgeben, mit Ausweis für Frau und Kind extra, aber nur bei Vorlage des Personalausweises, keine Ausleihe ohne Ausweis, Vormerkungen gegen 2 DM Gebühr, etc. etc.

    Die Schweizer stehen zueinander, sie vertrauen sich, eine lang trainierte historischen Notwendigkeit bei den Eidgenossen?

    Ich frage mich dann nur, warum heisst das Einwohnermeldeamt hier eigentlich „Einwohnerkontrolle„?

    

    13 Responses to “Oh glückliche Schweiz! — Vertrauen ohne Kontrolle”

    1. Phipu Says:

      Lieber Jens,

      Die Kommentare bei http://www.blogwiese.ch/archives/124 (Sachen, die überall, aber gewiss nicht in der Schweiz geschehen) brachten mich darauf, dass du noch mehr zum paradiesähnlichen Zustand in diesem Wunderland geschrieben hast. Und hier, noch Monate später, mein Einzelfall einer Gegendarstellung:

      Die meisten Feriengäste (zu D: Urlauber) wissen mehr über diesen paradiesischen Zustand als die Schweizer selbst. Vermutlich steht nicht nur in Blogwiese.ch sondern auch im „Lonely Planet – Switzerland (Central Europe)“, dass überall nur Vertrauen herrscht, und Missbrauch nie vorkommt. Kriminalität kann ja wirklich unmöglich die Landesgrenzen überschritten haben.

      So kenne ich aus eigener Erfahrung die folgende Geschichte, in welcher ein allein reisender Geschäftsmann (vermutlich aus einem Staat im nahen Osten, wo ich eine hohe Kriminalität voraussetze und daher von der Bevölkerung eine erhöhte Wachsamkeit erwartet hätte) sein Gepäck bei der Sitzbank, wo er eben sass, stehen liess und Dutzende von Metern zum Geldwechselschalter marschierte. Ist ja verständlich, es wäre mühsam, das ganze Gepäck (Rollkoffer, Kittel, kleines Handgepäck, vielleicht alles auf Gepäckrolli) zu schleppen. Also kommt er dann später nur mit der Brieftasche in den Fingern vom Schalter wieder zurück, stellt fest, dass dort drüben bei der Sitzbankgruppe seine ganzen Sachen nicht mehr sind… ach nein, das muss wohl bei den anderen Sitzbänken gewesen sein … Aber, nein, dort war ich bestimmt nicht … oder habe ich es doch zum Schalter mitgenommen? … (Am Geldwechselschalter:) Entschuldigung, haben Sie etwas beobachtet? … ah, ja, Sie konnten ja gar nicht dort hinüber sehen … Wo ist hier ein Polizeiposten? etc. Leider konnte auch ich nicht helfen, denn genau der kritische Moment war mir ebenfalls entgangen.

      Und während der traumatisierte Geschäftsherr beim Polizeiposten auf den Ausdruck des Protokolls wartet, ertönt die Lautsprecheransage wie in jedem Flughafen der Welt: „Achtung bitte, hüten Sie sich vor Taschendieben und lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt. Melden Sie verdächtige Beobachtungen dem Personal! – Your attention please, … – Votre attention s’il vous plaît, … – Attenzione prego, …“

      Willkommen in der Schweiz! (aber nicht im Paradies)

    2. Sandra-Lia Says:

      well abe doch ned nur vertrout wird.. du chasch der ned vorschtelle, wie misstrousch mir sind.. drum burche mir ebe „heimatschin“ „Familiebüechli“ „Betribigsuszug“ usw.. so veu zum kapitel vertroue..

      i mein.. hey, schtemmt, es isch sicher suber.. aber, dutschland: er chend öbbis lerne: dermit chame 10’000 Arbeitsplätz schaffe.. u zwar sicheri.

    3. Peter Gloor Says:

      Fahrräder (Velos) unabgeschlossen?
      Würde ich nach 55 Lebensjahren in diesem paradiesischen Land heute
      nie mehr tun! Bei uns gilt der Spruch: Was nicht mit Vorder- und Hinterrad via Drahtseilschloß am Fahrradständer befestigt ist, wird irgendwann einmal
      geklaut. Die Frage ist bloß, wann, nicht, ob.
      Am Bahnhof haben Diebe einmal über Nacht einen GANZEN Fahrradständer
      mit Inhalt abtransportiert. Ja, am Bahnhof Bülach-Paradies.
      Peter

    4. Robert Says:

      Wäre doch auch zu schön, um Wahr zu sein! Wenn ich daran denke, was in unserem Land Österreich derzeit abgeht. Dort kann man jetzt auf Autobahnparkplätzen nicht mehr übernachten, weil man mittlerweile von Ostbanden mit Nervengas betäubt und ausgeraubt wird! Und das im so sicheren Österreich! Ob es allerdings auch in der Schweiz schon so schlimm ist, wage ich zu bezweifeln!

    5. Nicole Says:

      Ich hab mich auch gewundert, das vor Blumenläden die Blumen über nacht draussen bleiben. Und auch die Self-Pick Blumenbeete! Die Kasse steht daneben!!! In Deutschland wären über Nacht nicht nur die Blumen sondern auch der Geldkasten verschwunden. :-)))

    6. sirdir Says:

      Tja, das mit dem Vertrauen gab’s wohl früher mal…
      Aber a propos Freibäder: Die sind in der Stadt Bern (und da hat’s immerhin das Grösste der Schweiz) umsonst, dann brauchts auch schlicht keine Aufsicht an den Kassen.

    7. fumso Says:

      Ich hab bei einem Besuch in der Schweiz auch erlebt, dass ein kleiner Supermarkt über Nacht mehrere Sachen wie Colakisten etc. einfach draußen stehen gelassen hat. Das ist selbst für jemanden, der nie daran gedacht hat, etwas zu klauen, verlockend 😉

    8. Mario Says:

      Aah, jetzt verstehe ich, warum meine Arbeitskollegen in Grenzach (D) früher immer vom „Musterländli“ gesprochen haben.

    9. Karin Says:

      Gegenseitiges Vertrauen, ist eins der grossen Lebensqualitäten der Schweiz. Ich könnte hierzu zig Beispiele erzählen. Artikel, die über hundert Franken gekostet haben und einfach mit einem Einzahlungsschein mitgegeben wurden, Zollbeamte, die einen Freund ohne Visa aus der Schweiz aus- und einreisen gelassen haben, Häuser, Wohnungen, Weinkeller, die für alle offen stehen, …
      Bei vielen Deutschen und Menschen aus anderen Ländern schwingt bei diesem Thema immer ein bischen mit, dass die Schweizer in den Punkt ein bischen naiv sind.
      Wieso versucht Ihr es nicht auch? Dem Menschen kann man wirklich vertrauen, wenn er sich an dem Ort, wo er wohnt integriert und wohl fühlt. Ich habe in diesem Punkt bis jetzt immer sehr schöne Erlebnisse gemacht. Es ist ein Genuss!
      Ich hoffe, wir werden hier in der Schweiz diese Lebensqualität noch lange haben und die Leute, die daas Vertrauen ausnützen, werden weiter in einer kleinen Minderheit bleiben.

    10. Diti Says:

      Als ich hier in ZH vor nen paar Monaten eingezogen inem Wohnheim eingezogen bin, bekam ich nen Zettel inne Hand gedrückt mit der Bitte mal alles aufzuschreiben, was in meim Zimmer so an Maengeln zu finden waere. Damit ich halt beim Auszug kein Aerger kriegen wuerd, was ich noch nachtraeglich wieder reparieren/bezahlen muesste.
      Ich fragte ob man nich mitkommen wolle, damit wir uns zusammen das Zimmer begutachten koennen. Da wurde abgewinkt – ich solle halt einfach nur gut hinschaun und allet notiern was ich so find….
      Is schon nen komisches Gefuehl, weil wenn ich hier wieder auszieh und ich muss was nachzahlen (Flecken auffem Teppich oder so) stuend aussage gegen Aussage……doof das.

      Diti

    11. M.L. Says:

      Komisch?! Wiso wird dann SVP gewählt?! Die Schweiz hat einen Ausländeranteil von ca. 20% und ist so sicher?!
      Wenn es nach SVP geht ,könnte man meinen, dass alle Ausländer Diebe, Mörder, Betrüger etc. sind und alle aus der Schweiz geschaft werden sollten. Da muss ich als Schweizer! etwas verschlafen haben!

    12. Stephan Says:

      Also es stimmt schon, das ist eine wirkliche Lebensqualität, zumindest in mehr ländlichen Gegenden. Es hängt aber auch damit zusammen, dass die Arbeitslosenquote recht niedrig ist, d.h. tagsüber sind ausser Rentnern und Hausfrauen kaum Leute auf der Strasse und wenn doch, dann sieht man sie schnell. Ob das in grossen städten auch noch so ist, wage ich aber zu bezweifeln.

      Immer wieder lohnend auch der Service-Vergleich auf Ämtern wie z.B. dem Strassenverkehrsamt. Man fü’llt seine Papiere aus, gibt sie ab, bekommt dann den Fahrzeugschein zugeschickt und fährt halt bis dahin ohne Papiere. In Deutschland undenkbar! Allerdings hat dieser Service auch einen extrem hohen Preis!

      Schade nur, dass „Vertrauen ohne Kontrolle“ nicht auch im Strassenverkehr gilt. Die mittlerweile orwellsche Züge annehmende Totalüberwachung lässt den Eindruck aufkommen, dass das Vertrauen nur solange gilt, bis man mit der Kontrolle einträgliche Geschäfte machen kann.

    13. David Says:

      Hier ist ein weiterer Beweis für das Schweizer Vertrauen: Neulich am Bahnhof, zwei Ticketautomaten, ca. 25m voneinander entfernt. Am einen Automaten wechselt ein älterer Mann in Arbeiterkleidung die Geldkassetten – in gemächlichem Tempo – aus. Soweit noch okay, obwohl in anderen Ländern wohl schon hier Security-Leute dabei gewesen wären. Jedoch stand vor dem anderen Automaten die schon ausgewechselte Geldkassette einfach so davor (mit aufgeklebten Inhaltsschein, versteht sich 😉 ihm war zu entnehmen, dass sich in der Kassette gut 2800.- Franken befanden).
      Ich hätte ohne probleme die Kassette mitnehmen können, zeit dazu hätte ich genug gehabt; ich wäre wohl nichteinmal bemerkt worden… und selbst wenn, einem alten Mann lauf ich mit 25 Metern Vorsprung sogar mit einer Kassette voller Münzen locker davon.
      In diesem Sinne: ein Hoch auf das Schweizer vertrauen, auch wenn ich jetzt 2800.- Fr. reicher sein könnte 🙂